© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Verfall der Wissenschaftskultur
Es gibt kein Zurück
Johannes Eisleben

Der Historiker Egon Flaig schreibt in seinem Buch „Die Niederlage der politischen Vernunft“ (2017): „Die Menschheit kann der wichtigsten Errungenschaften verlustig gehen: Menschenrechte, Demokratie, Wissenschaft.“ Diese „Verlierbarkeit“ gehört für ihn zu den „historischen Existentialen“. Vergesellschaftungsformen, die auf Demokratie und Menschenrechte gründen, kommen und gehen im Lauf der Geschichte. In nur hundert Jahren haben wir in Deutschland Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Diktatur, Bonner Republik, sozialistische DDR-Diktatur und seit Ende der 1990er Jahre Berliner Postdemokratie, wie Colin Crouch unser aktuelles Gemeinwesen nennt, mit Auflösung von nationaler Souveränität und Ordnungsstaatlichkeit im modernen Gesinnungsstaat erlebt. Die Phase, in der man in Deutschland dem liberalen Ideal der politischen Realisierung von Menschenrechten und Demokratie am nächsten kam, war kurz (1949 bis 1998) und ist nun schon wieder vorbei.

Doch ist Wissenschaftskultur so vergänglich wie die Vergesellschaftungsformen? Hat sich diese Kultur dem anti-pluralistischen, postdemokratischen, pseudoliberalen Gesinnungsstaat unserer Zeit unterworfen? Im Bereich der Geisteswissenschaften mit Sicherheit in weiten Teilen, das beschreibt sehr gut Norbert Bolz – in „Treibhäuser der Konformität“, zuerst erschienen bei achgut.com –, aber wie sieht es mit den Naturwissenschaften aus?

Wir schauen uns zwei charakteristische Beispiele an: das erste aus einer der Antriebswissenschaften im Kern des heutigen technischen Fortschritts, der Informatik. Und ein zweites aus dem Bereich Klimaforschung. Beide bestätigen scheinbar, daß auch die harte Wissenschaft sich dem Gesinnungsstaat beugt. Wir werden sehen.

Angewandte Mathematik ist der Motor des technischen Fortschritts und über die damit verbundene Produktivitätssteigerung eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Quelle unseres Wohlstands. Einer der Bereiche, in denen derzeit Ergebnisse der Forschung abgeerntet und in die Praxis umgesetzt werden, ist die Informatik. Denn durch die Steigerung und krasse Verbilligung von Rechenleistung einerseits und die Verfügbarkeit vieler digitaler Daten andererseits ist es möglich geworden, riesige Datenmengen zu speichern, darauf sehr schnell zuzugreifen und damit rechenintensive Algorithmenklassen wie Machine Learning oder Kryptographie in den Massenbetrieb zu nehmen. Diese Verfahren finden vielerlei Anwendung.

Für unsere Fragestellung besonders interessant ist ein Teilgebiet der Informatik, das sich mit Sprache beschäftigt: die Computerlinguistik. Anders als beispielsweise die Datenbanktheorie beschäftigt sie sich mit einem politisch und sozial hochgradig relevanten Thema – der den Menschen zur hochkomplexen Vergesellschaftung befähigenden Sprache.

Besucht man heutzutage eine Computerlinguistik-Konferenz wie beispielsweise die EM-NLP in Brüssel (2018), werden bei der Begrüßung Statistiken zur Beteiligung „identitärer“ Gruppen gezeigt: Anteil von Frauen und Anteil der verschiedenen Rassen (ja, wirklich) an den Besuchern, den eingereichten und den zur Veröffentlichung angenommenen Konferenzbeiträgen. Dabei wurde vom Moderator der Eröffnungsveranstaltung beklagt, daß Gruppen wie Frauen und Schwarze unterrepräsentiert seien, und anhand von Trendstatistiken Besserung versprochen, wobei Spezialpreise für die besagten Gruppen helfen sollten. Doch das ist nur Vorgeplänkel.

Social-Media-Konzerne sind von staatlichen Restriktionen bedroht, wenn sie zu viele Inhalte zulassen, die von der obrigkeitlich erwünschten Gesinnung abweichen. Die Beiträge sollen keine neue Form der Gewaltenkontrolle von unten her erzeugen. 

Im Programm der Konferenz finden sich alle klassischen grundlegenden Teildisziplinen der Computerlinguistik: Morphologie, Phonologie, Syntax, Semantik, Entitätsidentifikation und Informationsexktraktion, Machine learning, Sprachmodelle. Dann die kanonischen Anwendungen der Grundlagen: maschinelle Textübersetzung, automatische Fragebeantwortung und Textzusammenfassung, Textsynthese, Diskursführung. Aber auch staatstragende Inhalte: Themen wie automatische Kontrolle sozialer Medien durch Emotionsanalyse, maschinelle Meinungsermittlung, Kontrolle der Herausbildung kollektiver Meinungstrends, automatische Beziehungsanalyse in sozialen Netzen zum Screening nach Meinungsbildnern, Ermittlung textueller sexueller Belästigung sowie automatische Überwachung von Diskriminierung und Identifizierung von „Hate speech“.

Dabei sind die Ergebnisse heute extrem schwach, weil die Grundlagenfächer noch keine ausreichenden Techniken bereitstellen. Doch der Wille zur gesinnungskonformen Anwendung ist stark, und die Mittel dafür sind riesig – um mehr davon zu bekommen, werden die dürftigen Ergebnisse entsprechend gepriesen. Als wichtigste Geldgeber dieser Forschung treten interessanterweise einerseits die großen Social-Media-Konzerne wie Facebook, Google (Youtube), Twitter und Linked­in auf, aber auch Massenkonsumkonzerne wie Netflix, Apple und Amazon, andererseits die Volksrepublik China, dann erst westliche Nationen.

Wie ist die Interessenlage? Massenkonsumkonzerne brauchen Sprachtechnologie zur Umsatzsteigerung, beispielsweise um Konsumenten bessere Kaufvorschläge zu machen oder ihre primitiven Dialogsysteme (wie Alexa oder Siri) zu verbessern. Social-Media-Konzerne hingegen sind von staatlichen Restriktionen bedroht (zum Beispiel vom deutschen NetzDG), wenn sie zu viele Inhalte zulassen, die von der obrigkeitlich erwünschten globalistisch-pseudoliberalen Gesinnung abweichen. Die Beiträge sollen sich nicht gegen die Inhalte der staatstragenden Medien richten oder gar eine neue Form der Gewaltkontrolle von unten her erzeugen.

Beispielsweise sollen wenige oder keine Beiträge, die sich für Grenzen und den Nationalstaat oder gar den Staat Israel einerseits oder andererseits gegen Massenmigration, Islamisierung oder die globale Finanzindustrie richten, hochgeladen und angeboten werden. Beispiele – auch solche berechtigter Sperrungen – findet man auf der englischsprachigen Wikipediaseite unter dem Stichwort „Twitter Suspensions“. Zu diesem Zweck versuchen die Konzerne Überwachungssoftware zu erzeugen, mit deren Hilfe sie zeigen können, daß sie sich als Firmen der neuen Ordnung gerne und gründlich unterwerfen – denn sonst dreht der Staat ihnen die Geldquellen zu. Beim kommunistischen China ist das erkenntnisleitende Interesse am eindeutigsten: offene, direkte und totale Herrschaft. Entsprechend hoch ist auch der Anteil von Asiaten bei den Konferenzen – was die Veranstalter stolz als Zeichen von „diversity“ betonen.

Nun zur Kimaforschung: Es ist viel darüber geschrieben worden, daß Klimamodelle strengen Wissenschaftskriterien nicht genügen. Kurz gesagt hat Wissenschaft drei Aufgaben: beschreiben, erklären und vorhersagen (Max Weber). Klimamodelle erfüllen keine dieser Aufgaben adäquat und zählen daher nicht zur Wissenschaft im engeren Sinne.

Im Bereich der unbelebten Natur gibt es Modelle, die jene drei Aufgaben gut erfüllen, nämlich dann, wenn darin wenige Variablen in klarer Weise aufeinander einwirken, um die Wirklichkeit abzubilden. Deswegen gibt es beispielsweise die Weltraumfahrt oder die synthetische Chemie. Wirken sehr viele Variablen intensiv aufeinander ein, entsteht in einem System deterministisches Chaos (nachzulesen bei J. L.

McCauley, 1993). Dabei gelten zwar die Naturgesetze, doch kann ihr Zusammenwirken nicht mehr mathematisch modelliert werden. Das menschliche Gehirn oder das Weltklima sind solche Systeme. Niemand kann ihr Verhalten vorhersagen, und selbst die Erklärung beobachteter historischer Phänomene ist extrem schwierig und gelingt nicht adäquat.

Das Auftreten korrupter Herrschafts-kollaborateure in den Wissenschaften bedeutet nicht, daß das abendländische Wissenschaftsmodell gefährdet ist. Es gibt kein Zurück in die Zeit vor der Erfindung der Infinitesimalrechnung und der Technosphäre.

Doch geben einige (nicht alle) Klimaforscher wider besseres Wissen vor, sie betrieben Wissenschaft im engeren Sinne und könnten erklären und vorhersagen. Dabei lassen sie sich zu vollkommen unwissenschaftlichen Modellen und Schlußfolgerungen hinreißen. Ein Beispiel aus dem Mai dieses Jahres ist der apokalyptische Katastrophenbericht des australischen National Center for Climate Restoration. Wie ist hier die Interessenlage?

Die globalen Eliten sähen gerne eine Überwindung der Nationalstaaten, weil sie davon überzeugt sind, daß diese bei der Renditemaximierung und weiteren Vergrößerung ihrer Vermögen hinderlich sind. Um Mehrheiten dafür zu finden, nationale Souveränität, den Kern der demokratisch-freiheitlichen Selbstbestimmung der Bürger, aufzugeben, wird kollektiv-halbbewußt (wir haben es nicht mit einer Verschwörung zu tun) ein mächtiges Narrativ gesucht.

Die Erzählung vom nahenden Klima­-Armageddon hat diese Kraft – zumindest derzeit in Deutschland. Klimaforscher, deren wissenschaftliche Arbeitsweise sich vollständig von der abendländischen Wissenschaftsmethodik, der Überprüfung von Modellen anhand von Daten, befreit hat, liefern mit ihren abstrusen, inzestuös finanzierten Arbeiten und veröffentlichten Berichten dafür das Basismaterial. Daraus bauen Journalisten, Publizisten, Politiker, Beamte und andere Meinungsmultiplikatoren das böse Märchen vom menschengemachten Klima-Armageddon auf, obwohl der derzeit zu beobachtende Klimawandel sicherlich zu einem großen Anteil natürliche Ursachen hat.

Was bedeuten diese beiden Beispiele für die Frage nach der Kontingenz und der Vergänglichkeit der abendländischen Wissenschaftskultur, der wir unsere Kultur der Technosphäre verdanken?

Die geistige Elite der Gesellschaft, die die Ereignisse interpretiert und ihnen Sinn verleiht, hat größtenteils schon immer der herrschenden Elite gedient. Figuren wie Jan Hus oder Giordano Bruno, die sich für das, was sie als die gegen die Eliten gerichtete Wahrheit empfinden, opfern, sind selten. Das gilt auch für die Wissenschaft. Denn wer als Wissenschaftler das Haupt erhebt und sich gegen die Herrschaftselite wendet wie Galileo Galilei, wird bestraft, selbst wenn er abschwört.

Daher ziehen sich in Zeiten des Gesinnungsstaates viele Wissenschaftler in die innere Emigration zurück, wie etwa Rudolf Bultmann während der NS-Zeit. Andere arbeiteten tatkräftig am Herrschaftsmodell mit, und so ist es auch heute. Irgendwann wird die aktuelle Herrschafts­ideologie abgelöst, und dann werden pseudowissenschaftliche Verfahren zur Berechnung individueller politischer Einstellungen, zu geplanten Handlungen von Aktivisten im Internet oder apokalyptische Klimamärchen uns so valide erscheinen wie die Phrenologie Franz Galls oder der animalische Magnetismus von Franz Mesmer.

Denn das Auftreten korrupter Herrschaftskollaborateure in den Wissenschaften bedeutet nicht, daß das abendländische Wissenschaftsmodell gefährdet ist. Die überwiegende Mehrzahl der mathematisch-naturwissenschaftlichen Publikationen folgt streng den Regeln der Logik und der Hypothesenvalidierung, mit deren Hilfe die heutigen Wissensgebäude geschaffen wurden.

Wie der Soziologe Arnold Gehlen in „Die Seele im technischen Zeitalter“ 1957 gezeigt hat, sichern das zwei fundamentale Kräfte ab. Erstens der immer noch atemberaubende technische Erfolg des mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbilds, der in jedem Jahrgang junge Menschen fasziniert und für entsprechende Berufe vom Ingenieur bis zum Differentialgeometer begeistert. Und zweitens der Hunger der Menschheit nach Konsumgütern und die Erwartung, daß wir nie wieder so gefährdet leben müssen wie im Agrarzeitalter ohne moderne Technik.

Vergesellschaftungsmodelle kommen und gehen, doch das Wissenschaftsmodell ist essentiell. Es gibt kein Zurück in die Zeit vor der Erfindung der Infinitesimalrechnung und der Technosphäre, die wir danach errichtet haben.






Johannes Eisleben, Jahrgang 1971, ist Mathematiker und arbeitet als Systeminformatiker. Eisleben publiziert auf dem Portal achgut.com sowie in der Zeitschrift Tumult. Mit seiner Familie lebt er bei München. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Künstliche Intelligenz (JF 6/19) sowie über Kultur und Zivilisation als Schicksalsfragen unserer Zeit („Macht und Identität“, JF 2/19). Twitterprofil: @j_eisleben

Foto: Informatik im Dienst des Gesinnungsstaats: Nicht nur in den Geistes-, auch in den Naturwissenschaften hat sich die Kultur in weiten Teilen der antipluralistischen, pseudoliberalen Obrigkeit unterworfen