© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Des Marschalls Kaiser
Zu den 250. Geburtstagen Napoleons und des „Tapfersten der Tapferen“ seiner Herrführer, Michel Ney
Norbert Breuer-Pyroth

Bloß ein paar Steinwürfe von der A8 bei Oberelchingen ist es gelegen. Besonnt und friedlich, an einer Klosterkirche, breitet sich ein riesiges Rapsfeld aus. Getränkt ist es mit Abertausenden Litern Blut. Und unsäglichem Leid. 1805 in der Schlacht bei Elchingen, seinerzeit 500 Einwohner, verloren bis zu 7.000 österreichische und französische Soldaten ihr Leben. Die ganze Nacht hindurch waren Schreie und Wehklagen der sich unversorgt auf schneeiger Erde krümmenden Sterbenden und Schwerverwundeten weithin vernehmlich. 

Überlebenschancen gab es ehedem kaum, zumal stets Wundbrand drohte und die Militärärzte, nicht selten adlige Kriegsdienstvermeider, zu oft unfähig waren. Napoleon legte einem tödlich Verwundeten seiner Kämpfer seinen eigenen Stern der Ehrenlegion in die Hände und hielt eine Rede, in der er seinen ihm großteils durchaus innig ergebenen Soldaten in hehren Worten seine Zufriedenheit bekundete. 

Napoleon und sein Marschall Michel Ney trugen einmal mehr einen Sieg davon, diesmal gegen zahlenmäßig weit überlegene Österreicher. Bonaparte zog weiter nach Austerlitz, wo er in der „Dreikaiserschlacht“ den entscheidenden Triumph über Russen und Österreicher errang, seinen bedeutendsten militärischen Erfolg. Errungen um den Preis von 15.000 Toten – den Leichnam des Generals Morland legte man zur Konservierung kurzerhand in ein Faß Rum – und einer Siegessäule an der Pariser Place Vendôme, gegossen aus 133 feindlichen Kanonen. 

Böttchersohn von der Saar wurde zum Marschall

1769 wurden im korsischen, just von Frankreich unterjochten Ajaccio und im französischen Saarlouis (auf lothringischem Terrain errichtete Vauban-Wasserfestung, heute Saarland) zwei Söhne geboren: am 15. August Napoleon Bonaparte und ein gutes halbes Jahr früher, am 10. Januar, Michel Ney, die als eine Art Duo infernale in die Speichen des Weltenlaufs eingreifen sollten. Der Korse – „Ich bin die Revolution. Die Revolution ist beendet“ – würde sich nur 424 Monate später prunkvoll selbst zum Kaiser der Franzosen ernennen – und damit sogar den Papst düpieren. Zehn Jahre danach begab sich die Familie Buonaparte ins Exil und lebte meist unter falschem Namen. Was war geschehen?

Der gar nicht so kleine Napoleone Buonaparte (so der Geburtsname) – er maß um die 1,68 Meter, der durchschnittliche französische Soldat damals jedoch nur 1,62 Meter – besaß brillante geistige und mentale Gaben. Er durchraste eine atemberaubende militärische Karriere: Schon mit 26 Jahren erhält er den Oberbefehl über die französische Armee.  

Dieser korsische Revoluzzer war indes brutaler Machtmensch. Trotzdem faszinierte er die damalige Welt – darunter eher friedliebende Geisteskoryphäen wie Goethe, Heine und Morgenstern – in einer heute kaum mehr nachvollziehbaren Weise. Wie mochte man einen Menschen so bewundernd bewerten, der durch seine aggressive Expansionspolitik auf den Schlachtfeldern dreieinhalb Millionen Tote – mit modernen Waffen wären es gewiß noch um ein Vielfaches mehr gewesen – und unermeßlichen Schrecken hinterließ? 

Pendeln das seine weittragenden Neuerungen – weltweit beispielgebender Code civil (1804), auf ihn beruft sich unser BGB, Zivilehe, Metrisches System, Triumphbogen, Rübenzucker, Elitehochschulen, Präfekten, Staatsrat, Banque de France – denn aus? René Descartes (1596–1650) meinte: „Die größten Seelen sind zu den größten Lastern wie auch zu den größten Tugenden fähig“. Napoleons Laster war das größte Übel auf Erden: der Krieg. Er focht zeitlebens mehr Schlachten als Hannibal, Cäsar und Karl der Große zusammen. 

Nach seinem Sieg bei Elchingen wurde der hochbegabte, schneidige Böttchersohn Michel Ney – seit einem Jahr Marschall von Frankreich – gar zum „Fürsten von Elchingen“ erhoben. Napoleon nannte ihn „den Tapfersten der Tapferen“. Früh hatte er verkündet, bei ihm habe jeder einfache Soldat „den Marschallstab im Tornister“. Ney und weitere nahmen ihn beim Wort. Und Napoleon hielt es.

Indirekt eingeläutet durch den famosen Sieg Admiral Nelsons in der Seeschlacht bei Trafalgar (5.000 Tote), entzweit sich Napoleon 1812 mit dem russischen Kaiser Alexander I. und mar-schiert mit einem nie gesehenen Vielvölkerheer aus 500.000 Soldaten gen Moskau. Doch der Rußland-Feldzug gerät zum Fiasko. 450.000 Soldaten büßen ihr Leben ein. Rußland verbündet sich darauf mit Preußen und Österreich. Napoleon unterliegt sodann in der „Völkerschlacht“ von Leipzig 1813. 

Auf Sankt Helena im Südatlantik, wohin ihn die Briten deportierten, wird sich Napoleon später erinnern: „Die Schlacht von Moskau ist die schrecklichste gewesen, die ich je geschlagen habe.“ Sein Bedauern rührte kaum von Menschlichkeit her. War er es doch, der beim Anblick eines Schlachtfeldes zynisch äußerte: „Das macht Paris in einer Nacht wieder gut.“ Und auch: „Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen.“

Ney führte die Nachhut aus Moskau zurück

Die Napoleonischen Kriege forderten französischerseits um die 1,8 Millionen Opfer. Vor allem Franzosen, doch eben auch 65.000 anderer Nationalität, darunter namentlich Polen und Deutsche. Auf seiten der Alliierten beklagte man 1,5 Millionen Gefallene; den schlimmsten Blutzoll entrichteten dabei Österreicher, Briten und Russen. Noch 1789 war Frankreich mit 26 Millionen Menschen das am dichtesten bevölkerte Land Europas. Doch den ungeheuren Blutzoll der vom Korsen entfesselten Angriffskriege hat es lange nicht überwunden.

Ein erbärmlicher, jammervoller Rückzug aus Rußland also. Bei extremer Kälte leiden und sterben die Flüchtenden unter unsäglichen Strapazen, verhungernd, in völliger Trostlosigkeit, die Heimat so fern. Ein durchnäßter Liebesbrief: alles an verbliebener Habseligkeit Ihre Gesichter werden durch den Wind blutig geschlagen, Nasen und Ohren fallen ihnen buchstäblich ab. Beim Übergang über die Beresina reiten und steigen die Ausgezehrten über Berge aus Toten und aufgeschlitzten Tierkadavern. Und doch selbst inmitten des Horrors gibt es Menschlichkeit und Heldenmut, wie bewegende Zeugnisse belegen. Von den prächtigen Uniformen, die einst die Kampfmoral steigern sollten, bleiben nur Fetzen übrig; manche kommen gar in erbeuteten Pelzmänteln zurück, die ihnen das Leben retten.

Es war Marschall Michel Ney aus Saarlouis, der die Reste der französischen Armee in historisch heldenhafter Manier nach Hause führte. Ernest Hemingway schrieb über „seinen alten Freund Marschall Ney“ gerührt: „wie viele Tage Ney persönlich mit der Nachhut auf dem Rückzug von Moskau gekämpft hatte, aus dem Napoleon mit Caulaincourt im Wagen davongefahren war“. „Der letzte Mann der Großen Armee“, so Literat Friedrich Sieburg, „der Rußland verließ, war ein Saarländer.“

Als Ex-Diktator Bonaparte aus seinem ersten Exil auf Elba via Südfrankreich zurückkehrte, schickte Frankreichs Monarchie ihm ausgerechnet Marschall Ney, inzwischen Pair von Frankreich, entgegen – um ihn zu stoppen. Doch dem Zauber des Rückkehrers konnte Ney nicht widerstehen. Er schwenkte alsbald um. Dabei war er es doch, der Napoleon der vielen Verluste halber zur Abdankung gedrängt hatte und zu den Bourbonen hinübergewechselt war. 

Ney ermöglichte somit Waterloo. Den Untergang. Diese Schlacht mit 47.000 Gefallenen und Verwundeten gewann er nicht. Fünf Pferde wurden unter ihm weggeschossen, er stürmte zu Fuß weiter. Auf der anderen Seite der britische Herzog von Wellington: „Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen“. Und Feldmarschall Blücher kam. Es war das Ende des Ersten Französischen Kaiserreichs.

Wegen Hochverrats wurde Marschall Ney am 7. Dezember 1815 im Pariser Jardin du Luxembourg hingerichtet. Er, dessen Muttersprache Deutsch war, hatte es abgelehnt, Frankreich zu verlassen, sich befreien zu lassen, sich andersnational zu deklarieren. Er verweigerte die Augenbinde, war ohne Rangabzeichen und gab dem Erschießungskommando selbst den Feuerbefehl.

Ney war ebenso draufgängerisch wie umsichtig, fürsorglich zu seinen Soldaten, die er mitreißend zu motivieren wußte, ritterlich, bescheiden, aber auch hitzköpfig und mit der nötigen Brutalität ausgestattet, die sein Soldatentum erforderte. Der britische Feldmarschall Montgomery urteilte: „Ney war ein großartiger Kavallerieführer. Aber bei Waterloo zeigten sich Neys Schwächen. Als alles verloren war, verließ ihn seine Urteilskraft.“

Tragisch-kurios: Neys Heimatstadt, sein geliebtes Saarlouis, fiel durch seine Niederlage bei Waterloo im Wiener Kongreß an die gegnerischen Preußen. In Metz und Paris widmete man Ney schon bald bedeutende Denkmäler. Seine schon seit 1815 preußische bzw. deutsche Heimatstadt hat sich in der Vergangenheit wenig um ihn gekümmert. Zwar gab es jüngst eine eher karge Sonderausstellung zum 250. Geburtstag, doch ein Denkmal errichteten ihm 1946 nur die französischen Besatzer nach dem Weltkrieg. Sie benannten die Kaiser-Wilhelm-Straße auch in Marschall-Ney-Straße um. Im Zuge der Rückgliederung an Deutschland kehrte die Stadt das wieder um und heute ist nur ein unbedeutender Parkweg nach ihm benannt. Immerhin ist sein Geburtshaus noch vorhanden und eine Gedenktafel angebracht – von privaten Spendern. Victor Hugo zeichnete 1865 Neys Geburtshaus in der heutigen Bierstraße 13. Allerdings nahm er das Nachbarhaus als Motiv, weil es dem Original von ehedem noch ähnlicher war.

Publikationen  beschuldigen Napoleon

In Frankreich, wo zunehmend nicht wenige Bonaparte eher als einen „ogre“ (Massenschlächter) denn als Faszinosum betrachten, erregt nun ein bereits 2005 erstmals erschienenes, pamphletisches Buch („Le Crime de Napoléon“) Aufsehen. Dessen farbiger Autor Claude Ribbe, Absolvent einer Pariser Elitehochschule, wirft Napoleon Rassismus und Völkermord vor. Denn der Kaiser der Franzosen habe nicht nur die in der Revolution abgeschaffte Sklaverei in den Kolonien wieder eingeführt, sondern auch Tausende von Schwarzen, die sich gegen seine Tyrannei erhoben, grausam massakrieren lassen, auch durch Vergasung im haitianischen Saint-Domingue und indem man sie Hunden vorgeworfen habe.

Napoleon starb 1821 verbittert auf Sankt Helena. Vermutlich an Magenkrebs. Nein, er wurde nicht wie andere Herrscher seines Schlages aus Erdlöchern gezogen oder gehenkt. Aber er wurde Opfer von Leichenschändung, durch seinen eigenen Arzt, Francesco Antommarchi, den Napoleon nicht leiden mochte, und seinen Kaplan Abbé Ange Vignali: Sie stahlen Rippenteile, Locken und etliches Weitere. Auf Napoleons Geschlechtsteil, das Antommarchi abtrennte, legte der Pater besonderen Wert. Nach einigen Irrwegen wurde das Körperteil 1977 von einem renommierten US-Urologen für 2.900 Dollar ersteigert.