© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Die alten Zeiten zurückholen
Der Sozialdemokrat Paul Collier würde gern den „sozialen Kapitalismus“ der sechziger Jahre wiederhaben
Eberhard Straub

Arbeiten zu müssen galt in allen Zeiten vor dem Kapitalismus als Fluch. Frei war nur, wer nicht zu arbeiten brauchte. Darüber unterrichteten griechische und römische Philosophen und in ihrer Tradition die christlichen Kirchenväter. Deshalb gab es mehr Feiertage als Arbeitstage. Während der öffentlichen Feste versicherten sich alle ihrer besonderen Würde, als Ebenbild Gottes zur Freiheit und zur Freude berufen zu sein. Mit dem beginnenden Kapitalismus fängt die Moralisierung der Arbeit an. Die wahre Bestimmung des Menschen wurde nun darin erkannt, sich als Arbeiter für den Staat und die anderen Mit-Arbeiter nützlich zu machen. Realistische Humanisten mahnten daher jeden: Arbeit macht frei. Denn sie verleiht dem Leben erst Sinn und gibt der Stunde einen Zweck, ohne den sie vergeudete Zeit wäre. 

Karl Marx, auch ein realistischer Humanist, wehrte sich allerdings vehement gegen solche Humanisierung des Kapitalismus. Der Lohnarbeiter wurde ja als bloßes Mittel für Zwecke verwertet, die es ihm gerade verwehrten, sich zum freien Menschen zu bilden. Seitdem blieb es eine dauernde Frage, wie oder ob überhaupt Humanismus und Kapitalismus miteinander verbunden werden könnten. Für Paul Collier, Wirtschaftswissenschaftler aus Oxford und  bekennender Sozialdemokrat, ist nur in kapitalistisch geordneten Systemen ein Wohlstand für alle möglich. Dieses Ideal war, wie er unerschütterlich glaubt,  nach dem Zweiten Weltkrieg  zwischen 1945 und 1970 nahezu erreicht. Dann traten Entwicklungen ein, die allmählich und nach 1989 immer rascher das einmal erreichte soziale Gleichgewicht erschütterten und eine neue Unordnung bewirkten. Diese nötigt ihn jetzt zu seinem Manifest: „Sozialer Kapitalismus!“ 

Den Humanisten ohne Furcht vor dem Kapitalismus und den sozialdemokratischen Moralisten beunruhigen neue populistische Strömungen und die Wiederkehr längst abgetaner, veralteter  Ideologien. Beide versuchen, die sozialen Spannungen und Spaltungen für ihren Vorteil auszunutzen, was der Demokratie und dem Kapitalismus schade, die aufeinander angewiesen seien. Die goldene Zeit der sozialen Marktwirtschaft und der Volksparteien ist Vergangenheit. Davon handelt Paul Colliers Buch. Gerade deshalb seien wir verpflichtet, wieder die alten Zeiten zurückzuholen. Das ist seine Frohe Botschaft, mit fast religiösem Pathos vorgetragen. Die Zukunft liegt in der Vergangenheit, im wiederbelebten Sozialdemokratismus! Damals – zwischen 1945 und 1970 – gab es noch Arbeitsplätze, die dem Menschen Sinn und Halt vermittelten. „In einer erfolgreichen Gesellschaft haben die Menschen das Empfinden, ein sinnerfülltes, gelingendes Leben zu führen, aufzublühen – materieller Wohlstand verbindet sich hier mit einem Gefühl der Zugehörigkeit und der Wertschätzung durch andere“.

Von Demokratie, dem Rechtstaat, von rechtlicher und politischer Freiheit  ist dabei nicht die Rede, Arbeit ist des Glückes Unterpfand. Wenn alle arbeiten, erfolgreich sind und jeder im anderen einen Mitarbeiter achtet, dann ist der allgemeine Wohlstand gesichert, der sich im Wohlfühlen äußert, da jeder vom anderen geachtet wird, den er achtet. Der Egoismus nur mit sich beschäftigter Vereinzelter, die Jagd nach dem Erfolg, nach Geld und noch mehr Geld, ohne Rücksicht auf den nächsten, die Sucht, höchste Gewinne für ein Unternehmen und dessen Aktionäre zu erzielen, oft auf Kosten der Betriebsangehörigen, brachten den Kapitalismus um sein erreichtes Ansehen, für alle vorteilhaft zu sein. 

Statt das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl Menschen zu ermöglichen, haben nur noch wenige Vorteile im allerneuesten Turbokapitalismus, vor allem mobile Großstädter aus der Schicht der Besserverdienenden, gut ausgebildet und darin geübt, ihren Nutzen überall im Schaden anderer zu suchen. Diese neue Klasse eines Verdienstadels ohne adelige Tugenden, untereinander eng verknüpft und allein daran interessiert, in diesen Kreisen hoch geschätzt zu werden, kennen Solidarität höchstens unter ihresgleichen, obschon dauernd unter Druck, jeden zu übertrumpfen.

Sozialpolitik nur in einer übersichtlichen Nation

Sie haben keine Ahnung von den sogenannten Verlierern in den kleinen Städten draußen im Lande, aus denen sich florierende Unternehmen zurückziehen und die vom Staat vernachlässigt werden, der wie die führenden Gruppen der Gesellschaft auf die risikofrohen, innovativen und glamourösen Minderheiten setzt und darüber die Provinz vergißt, die sich selbst überlassen bleibt und den Zusammenhang mit den Exzellenzclustern verliert, verödet und verfällt. Dazu konnte es kommen, weil ein entfesselter Individualismus nach und nach alle ethischen Ratschläge entwertete, die sich als unverträglich für die dauernd zu erstrebende Höchstleistung erwiesen, nämlich seinen Marktwert zu steigern und seinen Lustgewinn zu maximieren, weil andere ihn als besonders wertvoll einschätzten und ihn dementsprechend verwerteten.  

Es ging um Selbstverwirklichung, um Rechte und Ansprüche, ohne zu bedenken, daß Rechte unmittelbar Verpflichtungen bewirken, die den Egoismus sozialverträglich machen, weil diese auf Ordnungsmächte verweisen: die Familie, das Unternehmen und den Staat. Der bevormundende, sich in alles einmischende Sozialstaat, wie ihn die Sozialdemokraten schufen, hat allerdings, wie Paul Collier bedauert, die Verantwortungslosigkeit gefördert, weil man dem Staat überließ, was eigene Aufgaben gewesen wären, oder – wer schlau und wendig genug – dem Sozialkäfig entrinnen und selbständig werden wollte. 

Als biederer Sozialdemokrat entwirft er ein Credo, die Glaubenssätze, die heilend in Staat und Gesellschaft wirken, wobei die Arbeit, sinnerfüllte und glücksstiftende Arbeit, der Heiland und Erlöser ist. Sie übernimmt in einer ganz innerweltlichen Heilsökonomie die Stelle, die Christus in einer geistig-göttlichen Heilsökonomie einnahm. 

Alle sind auf alle angewiesen, helft deshalb einander, um nie ohne Unterstützung durch den Nächsten zu bleiben. Denkt nicht allein an Euch, sondern an die Gemeinschaft. Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Dann wird der Arbeitsplatz schöner, erweckt Kräfte, als Glied mitbestimmen zu dürfen, und über diese Kraft, als Mitarbeiter gehört und geachtet zu werden, wird viel Freude gewonnen, die anderen geschenkt werden kann und sie mit dem Freudenspender vereint. Ein solches Unternehmen ist eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, eine große Familie wie der Staat als Volks- und Arbeits- und Lebensgemeinschaft. 

Unter solchen Voraussetzungen wechselseitiger Abhängigkeiten und Ergänzungen wird aus dem raffenden Kapital zum Nutzen weniger wieder ein schaffendes, ein Ordnung schaffendes Kapital. In einer Gesellschaft als Solidargemeinschaft, als räumlich begrenzter, weil alle Politik und Sozialpolitik auf einen übersichtlichen Raum angewiesen ist, wird die Nation wieder von allen geschätzt, die vom gemeinsamen Wollen erfüllt zusammengehalten werden und ein überindividuelles Selbstbewußtsein aus dieser alle umfassenden Gemeinsamkeit empfangen; aus gemeinsamem Tun und gemeinsamem Fühlen erwächst der Patriotismus, die Begeisterung, nicht allein zu sein, sondern mit anderen zusammen, ob arm oder reich, hoch- oder durchschnittlich gebildet, über das kleine Wir der Familie, das größere des Unternehmens im großen Wir des Staates vergemeinschaftet zu sein.  

Ein solches Glaubenssystem politischer und sozialer Romantik ist schon mehrmals, auch in ganz anderen als sozialdemokratischen Entwürfen zur Erlösung von allen Übeln, vorgetragen worden. Die goldene Zeit gleich nach dem Kriege verging alsbald. Das Credo Paul Colliers bestätigt nur einmal mehr die Rat- und Hilflosigkeit vor dem Kapitalismus, der sich jeder Ordnung entzieht.

Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft. Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 293 Seiten, 20 Euro