© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Frisch gepresst

Oskar Negt. Wurde der 90. Geburtstag von Jürgen Habermas soeben mit Pauken und Trompeten begangen, mußte sich sein ehemaliger Assistent Oskar Negt jetzt zum 85. am 1. August selbst beschenken: mit dem zweiten Teil seiner Autobiographie, die als  „Denkreise“ durch die Intellektuellengeschichte der alten Bundesrepublik daherkommt. Sie zeigt den Sohn aus kinderreicher ostpreußischer Kleinbauernfamilie, der 1945 in letzter Minute die Flucht über die Ostsee gelang, als den im Vergleich zu Habermas, der im Kern stets seinem bürgerlich-liberalen Elternhaus treu blieb, eigentlich sozialistischen Sozialtheoretiker der 68er-Ära. Die Fortsetzung seiner Erinnerungen läßt erkennen, daß der kernig-bodenverhaftete Negt, dessen Vater seit 1919 der SPD angehörte – er selbst trat 1954 ein – gegenüber Habermas und dessen wolkigen Phantasmen vom „kommunikativen Handeln“ jener Philosoph ist, der sich tauglichere „Erkenntniswerkzeuge“ schuf, um den Weg in eine „lebenswürdige Welt“ zu öffnen. Diese realistischeren Vorschläge zur Gesellschaftsveränderung bewahrten ihn jedoch nicht vor dem Scheitern als „philosophischer Politikberater“, wie er es als Hannoveraner Professor im Umfeld Gerhard Schröders und der niedersächsischen SPD erleben mußte, wo das heutige Elend der Partei sich schon ankündigte. (ob)

Oskar Negt: Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise. Steidl Verlag, Göttingen 2019, geb., 381 Seiten, Abb., 28 Euro





Ruhe sanft, Oma Cilly. Marcel Krueger reist auf den Spuren seiner 1945 von der Roten Armee aus Ostpreußen nach Sibirien verschleppten Großmutter „Cilly“, die erst nach vier Jahren Zwangsarbeit wieder nach Deutschland zurückkehrte. Nun ist sie verstorben, und er macht ihr Leben öffentlich. Leider hat Enkel Marcel einige Wissenslücken und erdichtet eine Art Dokufiktion, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, eingebettet in einen Reisebericht. Über Massenvergewaltigungen, auch Cilly wurde Opfer, schreibt er: „Ich kann nur darauf hinweisen, daß diese Greueltaten geschehen sind.“ Na, dann ist ja alles gut. Die Beschreibungen aus den Viehwaggons Richtung Sibirien erinnern an Dwingers „Die Armee hinter Stacheldraht“. Den erwähnt das kurze Literaturverzeichnis nicht. Arme Oma Cilly. (mec)

Marcel Krueger: Von Ostpreußen in den Gulag. Eine Reise auf den Spuren meiner Großmutter, Reclam, Ditzingen 2019, geb., 264 Seiten, Abb., 20 Euro