© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Knapp daneben
Ein fatales Signal
Karl Heinzen

Wer in der Mittagspause das Betriebsgelände verläßt und sich dann verletzt, darf keine Leistungen der Berufsgenossenschaft erwarten. Mit dieser Entscheidung hat das hessische Landessozialgericht die Klage eines 56jährigen Vermögensverwalters abgewiesen, der darauf gepocht hatte, daß sein Mißgeschick als Arbeitsunfall anzusehen sei. Bei einem Spaziergang, auf dem er angeblich seinen Kopf freibekommen wollte, hatte er nicht auf die Beine geachtet und war über eine Steinplatte gestolpert. Dabei zog er sich Blessuren an Knie und Handgelenken zu. 

Der Spaziergang sei notwendig gewesen, um der hohen Belastung im Beruf standhalten zu können, beteuerte der Angestellte. Dieser Argumentation wollten sich die Darmstädter Sozialrichter aber nicht anschließen. Zudem sei Spazierengehen keine Haupt- oder Nebenpflicht aus seinem Beschäftigungsverhältnis, und es bestehe auch keine arbeitsrechtliche Verpflichtung zu gesundheitsfördernden Handlungen.

Dürfen wir uns wirklich damit abfinden, daß es ein Risiko gibt, gegen das wir nicht versichert sind?

Das Urteil spricht all jenen aus dem Herzen, die für Selbstverantwortung eintreten, da es der Sozialstaatsmentalität, sein persönliches Pech der Allgemeinheit aufzubürden, einen Riegel vorschiebt. Allerdings kann es angesichts der gesellschaftlichen Panikstimmung, in der so viele Menschen um ihre soziale Sicherheit bangen, auch als fatales Signal angesehen werden. Dürfen wir uns wirklich damit abfinden, daß es ein Risiko gibt, gegen das wir nicht versichert sind, oder uns ein Schaden entsteht, für den wir nicht andere zur Verantwortung ziehen können? Wer hat die Platte gelegt, über die der Angestellte gestolpert ist? Wer hat die Schuhe produziert, die seine Beweglichkeit derart hemmten, daß er nicht ausweichen konnte? Wer hat ihn so genervt, daß es ihn in der Mittagspause aus dem gemütlichen Büro hinaustrieb in die unwirtliche und gefährliche Umgebung? War es seine Frau? Oder sein Chef? Oder irgendein unzufriedener Kunde? Es wird sich doch jemand finden lassen, den man auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld verklagen kann. Und wenn es die eigenen Eltern sind, die einen so ungelenk gezeugt haben, wie man ist.