© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Der Flaneur
Den Finger gerade gelassen
Verena Rosenkranz

Die Morgendämmerung hat noch nicht begonnen. Wie selbstverständlich beschleunigt sich der Puls, die Augen öffnen sich in der Dunkelheit und schlaftrunken packe ich alles für die Jagd zusammen. Die Nacht war sternenklar, es liegt Morgentau auf den Wiesen und dem angrenzenden Waldboden. Die Feuchtigkeit erleichtert die geräuschlose Pirsch hin zur nächsten Kanzel. Kalte Waldviertler Luft schlägt mir hinter dem Haus entgegen, und ich bin hellwach. Meine Sinne sind geschärft, auf all das, was sich hier im Dunkeln verbirgt. Mit automatisierten Griffen klettere ich den Hochstand hinauf. Das Morgengrau läßt noch auf sich warten. Die Vögel und Grillen ebenso. Der Wald liegt noch im Tiefschlaf. 

Mit dem ersten Tageslicht setzt ein Vogelkonzert ein, und die Grillen zirpen. 

Minute um Minute vergehen in Dunkelheit und absoluter Waldesruhe. Bis ein Knarren im Unterholz die Stille zerreißt. Ein junges Reh tritt auf die Bildfläche. Während es ahnungslos ob des geladenen Gewehrs vor sich hinzieht, wird es heller. Und plötzlich springt er: der Bock, voller Sehnsucht nach seiner Geiß. Mitten auf die Wiese, mit ebenso wachsamem Blick wie ich zuvor. Liebestrunken folgt er seiner Angebeteten bedingungslos in kleinen Kreisen über die Lichtung. Ich beobachte ihn durch die Visierung meines Gewehrs. Mein Finger ruht noch neben dem eingestochenen Abzug. Das Liebesspiel hat ihn bereits ausgezehrt, dennoch trägt er sein Geweih mit Stolz und erhobenem Haupt. Er hält einen kurzen Moment inne. Der perfekte Augenblick. Doch kein Schuß zerreißt die Stille. Ich stelle meine Waffe zur Seite. Er ist jung. Die besten Jahre stehen ihm noch bevor, er erlebt die Brunft vielleicht, so wie ich, zum erstenmal. 

Als habe die Natur ihren Atem angehalten, setzt mit dem ersten Tageslicht ein Vogelkonzert ein, und die Grillen beginnen zu zirpen. Die Geiß ist in den Wald abgesprungen, während ihr Bock noch einen letzten Blick zurückwirft. Bis zum nächsten Jahr. In dem wir beide noch etwas Erfahrung sammeln dürfen.