© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Der schwelende Konflikt
Dreißig Jahre nach dem Wende-Herbst 1989: Um die innere Einheit Deutschlands steht es schlecht
Thorsten Hinz

Die Wahlkampf-Parolen der AfD treffen bei Anhängern wie bei Gegnern einen empfindlichen Nerv. Losungen wie „Vollende die Wende!“ und „Damals wie heute. Wir sind das Volk“ wecken Assoziationen an den Umbruch des Jahres 1989. Sogar zu einer „‘Friedlichen Revolution’ mit dem Stimmzettel“ werden die anstehenden drei Landtagswahlen erklärt. Das ist eine auf Provokation gebürstete Rhetorik. Im Wahlkampf braucht es nun mal griffige Formulierungen und einprägsame Bilder. Mit ihrer Wortwahl stellen die Landesverbände in Brandenburg, Sachsen und Thüringen klar, daß es um grundsätzliche gesellschaftspolitische Weichenstellungen geht und sie sich nicht in Sekundärthemen à la klimagerechte Straßenbeleuchtung oder recycelbare Flüchtlingsunterkünfte erschöpfen wollen.

Die Parolen würden nicht verfangen, wenn sie keinen rationalen Kern besäßen. In den östlichen Ländern hat die Einsicht Platz gegriffen, daß Freiheit und Selbstbestimmung sich mit der Eingliederung in die Bundesrepublik keineswegs erfüllt haben. Viele Wähler haben den Eindruck, erneut einer politisch-ideologischen Fremdbestimmung ausgesetzt zu sein.

Im Westen, dem die Möglichkeit des Systemvergleichs fehlt, hat das falsche Bewußtsein durchschnittlich zwar einen höheren Grad der Verdinglichung erreicht. Dennoch handelt es sich um keinen primären Ost-West-Konflikt. In ganz Deutschland ziehen die Konfliktlinien des politischen Streits sich durch Freundeskreise, Familien, ja durch ein und dieselbe Person. Deshalb ist der Vorwurf, die Wahlkampfrhetorik der AfD würde das Land „spalten“, so falsch, wie er von den Machtinteressen derer bestimmt ist, die ihn erheben. Ein annähernder Konsens, eine „innere Einheit“, ist nur möglich, wenn die schwelenden Konflikte benannt und ausgetragen werden. Weil diese Kontroverse eine grundsätzliche Kritik an den herrschenden Zuständen, vulgo: am „System“, impliziert, bringt sie naturgemäß diejenigen in Rage, die sich darin etabliert haben.

Gewiß, wir haben einen Rechtsstaat, der aber in weiten Bereichen erodiert und in anderen das Gesetz nach politischer Zweckmäßigkeit auslegt. Ja, es gibt eine quantitative Medienvielfalt, doch die relevanten Sender, Verlage und Foren werden von einseitig konditionierten Haltungsjournalisten monopolisiert, die statt als Kontrolleure der Regierungspolitik als deren Transmissionsriemen und Komplizen auftreten. Daher kann man getrost von „Staatsmedien“ und im weiteren vom „politisch-medialen Komplex“ sprechen.

Natürlich sind die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit grundgesetzlich verbrieft, doch geduldete Pöbel- und Schlägertrupps haben es in der Hand, sie zu suspendieren, wenn Kritiker der aktuellen Politik sie in Anspruch nehmen wollen. Die Stasi-Zentrale in Berlin ist heute eine Gedenkstätte, aber gleichzeitig legt sich eine aus Steuergeldern gespeiste Überwachungs-, Kontroll- und Denunziationsstruktur über das Land, ein Netzwerk aus Stiftungen, Initiativen, halbgebildeten Experten und Medien, die tatsächliche oder vermeintliche Rechtsabweichler namhaft machen und sie vor die Wahl zwischen Berufsverbot oder öffentlicher Selbstkritik stellen. So wird massenhaft ein gebrochener Charakter generiert: der Untertan.

Natürlich gehören Kinder, die kein Wort Deutsch können, nicht in deutsche Grundschulen, weil sie die anderen nur daran hindern, das Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Mit seiner Aussage hat der CDU-Politiker Carsten Linnemann eine Selbstverständlichkeit formuliert. Bildung, Wissen, überdurchschnittliche Intelligenz sind nun mal der einzige nennenswerte Rohstoff, über den Deutschland verfügt, weshalb er gehegt und gepflegt werden muß. Trotzdem wurde Linnemann umgehend vom Alarmgeschrei der Inklusionsfunktionäre und Antidiskriminierungs-Auguren übertönt: Ein aktuelles Beispiel von zahllosen, wie die Ideologie das Argument kujoniert und sich die Realität unterwirft.

Die heutige Bundesrepublik ist keine „DDR 2.0“, aber die Tendenzen sind eindeutig. Die Ursachen sind struktureller Natur. Die Existenz der DDR hatte sich nur in sozialen und ideologischen, nicht in nationalen Kategorien begründen lassen. Folgerichtig verschwand sie, als die sowjetische Besatzungsmacht sich von ihr zurückzog. Die Bundesrepublik verstand sich bei eingeschränkter Souveränität als Statthalter der ganzen Nation. Obwohl die letzte Entscheidung über den Ernstfall ebenfalls in den Händen äußerer Vormächte lag, versuchten ihre Politiker, die gesamtdeutsche Perspektive im Blick zu behalten und ein souveränes Deutschland zu antizipieren.

Was der Politik bis 1989 einigermaßen gelang, überforderte die Gesellschaft, insbesondere die Intellektuellen, welche die Politik – vor allem die Außenpolitik – als Kampffeld der Moral betrachteten. Nach der Wiedervereinigung entfaltete dieser romantische Enthusiasmus seine volle Wirkung. Die Debatten über die Golfkriege, den Jugoslawienkrieg, die Euro-Einführung, das Asylrecht wurden vorherrschend unter dem Gesichtspunkt geführt, welche Handlungsoption die wahre „Lehre aus der Geschichte“, insbesondere „aus Auschwitz“, sei.

Die moralisierenden Tendenzen haben sich zu einer regelrechten Ideologie ausgewachsen und die Grenzöffnung von 2015 vorbereitet, mit der der Staat die Schutzfunktion gegenüber seinem Volk aufgegeben hat. Schon finden sich Politiker, Juristen und Publizisten, die messerscharf nachweisen, daß der einzig verfassungskonforme Weg, der den Deutschen offenstünde, der Verzicht auf ihre ethnokulturelle Dominanz sei – im eigenen Land, wohlgemerkt. Vor diesem Hintergrund ist der Rückgriff auf die Parolen von 1989 legitim und das Gegenteil von plumper Wahlkampfrhetorik.