© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Zwischenrufe von der Seitenlinie
Sigmar Gabriel: In einer der größten Krisen seiner Partei gibt der ehemalige SPD-Chef ungebeten Ratschläge
Björn Harms

Sigmar Gabriel ist Wiederholungstäter. Beinahe wöchentlich mischt sich der ehemalige SPD-Chef, mittlerweile in den Rang eines einfachen Bundestagsabgeordneten abgerutscht, öffentlichkeitswirksam in die Debatten um seine Partei ein. Die tagespolitische Verantwortung hat der frühere Vizekanzler und Außenminister längst an andere abgetreten. Doch der bald 60jährige scheint sich in seiner neuen Rolle zu gefallen – eine Art „Elder Statesmen light“.

Kürzlich schoß Gabriel erneut mit scharfen Worten gegen seine Partei. „Die SPD ist linker als die Linkspartei geworden und ökologischer als die Grünen“, spottete er im Kölner Stadt-Anzeiger. „Ich bin sicher, daß die Mehrheit der Mitglieder diese Entwicklung ablehnt.“ Der Kurs der SPD, die sich „wie eine Holding von Minderheiteninteressen“ organisiere, sei in den vergangenen Jahren immer unklarer geworden.

Sein Markenzeichen: Sprunghaftigkeit

Bei der SPD-Führung scheint er damit einen Nerv zu treffen. Übergangschef Thorsten Schäfer-Gümbel reagierte auf die Wortmeldungen reichlich verschnupft. „Zwischenrufe von der Seitenlinie sollten uns nicht ablenken oder irritieren“, kommentierte er in der Stuttgarter Zeitung. Im Gegensatz zu Gabriel würden andere Ex-Vorsitzende „einfach anrufen und versuchen zu helfen“.

Gerade mit seinen wohlformulierten Gastbeiträgen in diversen Zeitungen sorgt Gabriel vermehrt für Unruhe, vor allem bei jungen Parteigenossen, die eine noch linkere Politik fordern. Anfang Mai warf er Juso-Chef Kevin Kühnert im Handelsblatt vor, die „katastrophalen Erfahrungen mit gelenkten Volkswirtschaften zu ignorieren“. Kurze Zeit später legte er im Tagesspiegel noch einmal nach und präsentierte einen Fünf-Punkte-Plan für einen sozialen Kapitalismus, in dem er Kühnerts sozialistische Träumereien zerpflückte. Die verstaatlichten Nationalökonomien der Vergangenheit hätten „dem internationalen Wettbewerb weitaus schlechter standhalten können als Volkswirtschaften in privater Hand“, stellte Gabriel fest. „Am Ende landeten sie im Bankrott und in erheblichen sozialen und ökologischen Verwerfungen.“ Die Partei müsse tunlichst aufpassen. Doch fest steht: Seit Willy Brandt gab es niemanden, der so lange SPD-Chef war wie Sigmar Gabriel (2009 bis 2017). Er hatte also durchaus die Möglichkeit, Einfluß auf den Parteikurs zu nehmen oder rechtzeitig die Alarmglocken zu läuten.

2015 noch setzte er sich als Wirtschaftsminister vehement für die Flüchtlingsaufnahme ein und beschimpfte Demonstranten als „Pack“, später warb er für Gespräche mit Pegida-Leuten. Die Sprunghaftigkeit Gabriels und seine Launen beklagten viele ehemalige Wegbegleiter. Nun plötzlich lobt er im Handelsblatt die „robuste Ausländer- und Asylpolitik“ der dänischen Sozialdemokratin und Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Weigerung der SPD, schnellere Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern zu unterstützen, hält er für falsch. Wer soll da noch mitkommen?

Dabei galt der Niedersachse jahrelang als einer der fähigsten Köpfe seiner Politikergeneration. Noch heute ist der linke Philosoph Nils Heisterhagen, der als Grundsatzreferent in der SPD arbeitet und als einer der wenigen Intellektuellen in der Partei gilt, felsenfest davon überzeugt, „daß Sigmar Gabriel das größte politische Talent der Sozialdemokratie ist, wenn nicht sogar des ganzen Deutschen Bundestags“. Gänzlich ausgespielt zu haben scheint er das ihm zugesprochene Talent jedoch nie.

Mit 40 Jahren durch den Rücktritt seines Vorgängers zum jüngsten Ministerpräsidenten Deutschlands geworden, fiel der Goslarer bereits vier Jahre später in ein tiefes Loch, als er 2003 eine herbe Wahlschlappe einstecken mußte. Die SPD verlor bei der damaligen Landtagswahl ihre absolute Mehrheit und Gabriel seinen Posten. Anschließend ernannte ihn das SPD-Präsidium zum Beauftragten für Popkultur und Popdiskurs. Der undankbare Spitzname Siggi Pop wurde geboren. Die Demütigung hinterließ Spuren.

In den entscheidenden Momenten nach seinem 2005 erfolgten politischen Comeback auf Bundesebene kniff der 59jährige. Gleich zweimal scheute er vor einer möglichen Kanzlerkandidatur zurück. So ließ er 2013 Ex-Finanzminister Peer Steinbrück den Vortritt, 2017 rollte der Schulz-Zug an ihm vorbei. Gabriel wußte um sein schwaches Ansehen in der Bevölkerung, die ihn stets skeptisch beäugte. Er galt nun mal als Inbegriff der verschmähten Großen Koalition. Ihm drohten bittere Wahlenttäuschungen. Das hätte ein Machtmensch wie Gabriel nicht verkraftet. 

„Diese ewigen Kämpfe            müssen wir beenden“

Nun also wandelt er sich zum Mahner aus dem Hintergrund. Dabei zur Hilfe kommt ihm die neugegründete, parteiinterne Bewegung „SPDpur“, der Gabriel jüngst beigetreten ist. Sie will den Linksschwenk der Partei aufhalten. „Ich unterstütze den Kurs von ‘SPDpur’, weil sich hier Menschen zusammenfinden, die wieder Klarheit über das schaffen wollen, was Sozialdemokratie eigentlich heißt“, begründete Gabriel seinen Beitritt. 

Das von einer Gruppe um den ehemaligen Landeschef Nordrhein-Westfalens, Michael Groschek, initiierte Positionspapier „Aufbruch durch Klarheit“ wirkt bisweilen, als hätte Gabriel selbst die Feder in die Hand genommen. Die SPD sei in den vergangenen Jahren nicht an ihren vielen Vorsitzenden gescheitert, sondern an „ungelösten Strukturproblemen“, heißt es dort. „Diese ewigen Kämpfe um kleinste taktische Positions- und Postengewinne müssen wir beenden“, fordern die Unterstützer, unter denen sich vor allem Kommunalpolitiker und Bürgermeister wiederfinden, aber auch die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries. Die „SPDpur“ will zudem ein „klares Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft“ sowie eine „harte Null-Toleranz-Politik gegenüber Kriminalität und Parallelgesellschaften in Deutschland“. 

Auch Sigmar Gabriel hatte im Juni vor innerparteilichen Machtspielchen gewarnt: „Solange es nur um das Durchsetzen oder Verhindern von Machtpositionen geht, werden die Menschen sich weiter von uns abwenden.“ Seine Partei benötige eine „Entgiftung“. Eines jedoch hat der ehemalige SPD-Chef zeitgleich mit seinem Eintritt bei „SPDpur“ ausgeschlossen: Für einen erneuten Parteivorsitz will er sich nicht bewerben. In diesem Fall ist Sigmar Gabriel wohl doch kein Wiederholungstäter.





Zukunftsmusik Rot-Rot-Grün? 

Früher oder später wird die Große Koalition Geschichte sein. Was aber kommt danach? In der SPD blinkt man nach links: Die kommissarische SPD-Vorsitzende Malu Dreyer sprach sich in der vergangenen Woche offen für eine Koalition mit der Linkspartei aus. „Sollte es eine Mehrheit links von der Union geben, müssen wir das Gemeinsame suchen und das Trennende analysieren“, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Unterstützung erhält sie von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. „Nach der nächsten Bundestagswahl wird es sicher Debatten über politische Mehrheiten und Konstellationen jenseits der Großen Koalition geben“, sagte Klingbeil der Passauer Neuen Presse. „Dazu gehört auch Rot-Rot-Grün.“ In Bremen habe gerade erst ein solches Bündnis seine Arbeit begonnen. „Da schauen wir jetzt auch hin.“ (ha)





Das Verfahren

1. September:

Bis zu diesem Datum können Zweierteams oder Einzelbewerber ihre Kandidatur für den SPD-Vorsitz einreichen. Für eine Bewerbung benötigen sie die Unterstützung von mindestens fünf Unterbezirken, einem Bezirk oder einem Landesverband.

4. September–12. Oktober: 

Die Kandidaten präsentieren sich in 23 Regionalkonferenzen der Basis. Die Auftaktveranstaltung ist in Saarbrücken, den Abschluß bildet eine Konferenz in München.

14. Oktober: 

Zwei Tage später dürfen die rund 440.000 SPD-Mitglieder ihren Kandidaten oder ihr Kandidatenteam für die Parteispitze wählen. Der Basisentscheid ist rechtlich nicht bindend, politisch dürfte das Votum jedoch entscheidend sein.

26. Oktober: 

Das Ergebnis der Befragung wird präsentiert. Kommt kein Kandidat oder Doppelteam über 50 Prozent der Stimmen, soll es eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplazierten geben.

6. – 8. Dezember: 

Auf dem Bundesparteitag in Berlin sollen der oder die Gewinner des Mitgliederentscheids formell an die SPD-Spitze gewählt werden. (ha)





Wer will, wer hat noch nicht?

Die bisher bekannten Kandidaten

Nina Scheer 47 Jahre, Bundestagsabgeordnete

Karl Lauterbach 56 Jahre, Bundestagsabgeordneter

Standpunkte: Ende der Großen Koalition, Linkskurs, verstärkte Umweltpolitik

Christina Kampmann 38 Jahre, Ex-Familienministerin in Nordrhein-Westfalen, Landtagsabgeordnete

Michael Roth 48 Jahre, Staatsminister im Auswärtigen Amt, Bundestagsabgeordneter

Standpunkte: Weder klares Ja noch klares Nein zur Großen Koalition, Linkskurs, Kommunalquote für den Parteivorstand, Schuldenbremse abschaffen, Investitionen

Alexander Ahrens 53 Jahre, Oberbürgermeister von Bautzen

Simone Lange 42 Jahre, Oberbürgermeisterin von Flensburg

Standpunkte: Ende der Großen Koalition, Linkskurs, Hartz-IV-System reformieren, fordern Diskussion über Grundeinkommen

Innerhalb wie außerhalb der Partei wird erwartet, daß es noch weitere Bewerber gibt 

Einzelkandidat

Standpunkte: Keine Festlegung zur Großen Koalition, Wirtschaft stärken, Abkehr vom Linkskurs, Digitalisierung vorantreiben, strengere Migrationspolitik