© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

In den Dienst ihres Mannes gestellt
Hildegard Kempowski, die Witwe des großen Volksschriftstellers, ist im Alter von 84 Jahren gestorben
Annegret Kühnel

Am 11. August ist Hildegard Kempowski, geborene Janssen, die Witwe Walter Kempowskis, des Volksschriftstellers und Tiefseetauchers in die deutsche Kollektivseele, mit 84 Jahren gestorben. Das Ehepaar war 47 Jahre lang, bis zu Kempowskis Tod am 5. Oktober 2007, verheiratet gewesen. Das gewaltige Werk, das Kempowski hinterlassen hat, wäre ohne diese Frau an seiner Seite kaum möglich gewesen.

Der Rostocker Reeder-Sohn war 1948 in seiner Heimatstadt vom russischen Geheimdienst verhaftet worden. Das Urteil lautete auf 25 Jahre Haft wegen Spionage. Die tatsächliche Haftzeit betrug acht Jahre, die er größtenteils im Zuchthaus Bautzen verbrachte.

Kempowski machte Erfahrungen, die man jedenfalls in dem Alter nicht machen sollte: Kurz nach seiner Entlassung im März 1956 notierte er: „Ich lernte viele Menschen kennen und darunter solche, die im Leben etwas dargestellt hatten, und mußte feststellen, wie klein sie alle waren. Hier herrschten der Hunger und der Selbterhaltungstrieb. Ein Pfarrer verlangte Zuckerportionen für Morgenandachten, ein doppelter Doktor wurde zum Verräter an seinen Kameraden, ein Professor wurde zum Harlekin usw. Kuhwil, der Offizier und Ritterkreuzträger, mit dem ich 1948/49 auf einer Zelle saß, den ich sehr schätzte, wurde später zum Dieb! Kartoffeln seinen Kameraden gestohlen! Das alles enttäuschte mich zwar nicht sehr, aber es führte zur höheren Selbsteinschätzung.“

In den frühen Sätzen ist schon die „fast heimtückisch-genaue Beobachtungsgabe des geborenen Chronisten“ enthalten, die Fritz J. Raddatz, sein Entdecker und Förderer im Rowohlt-Verlag, an ihm feststellte.

Kempowski war 19 Jahre alt, als er verhaftet wurde, und 27 bei seiner Entlassung. Das erzwungene Zölibat habe ihn „sexuell verkorkst“, schätzte er rückblickend ein. Sein dänischer Schwiegersohn erklärte ihm, die eigene zweiwöchige Gestapo-Haft sei viel schlimmer gewesen, und mit den Opfern des NS-Regimes könne Kempowski sich sowieso nicht vergleichen. Der Bonner Staat verweigerte ihm die Anerkennung als politischer Häftling. Über solche Erfahrungen kann man verbittern, zum Bombenleger oder Selbstmörder, mindestens aber zum Zyniker und Menschenhasser werden. Kempowski hat es zum großen Teil der Frau an seiner Seite zu verdanken, daß es dazu nicht gekommen ist.

An Sarkasmus war sie ihrem Mann durchaus ebenbürtig

Die Bekanntschaft begann ganz züchtig in Göttingen, wo Kempowski zunächst das Abitur nachholte und dann ein Lehrerstudium aufnahm. Die Studentengemeinde organisierte Tanzstunden für sogenannte Spätheimkehrer. Eine Freundin überredete die Pastorentochter Hildegard Janssen, daran teilzunehmen. Die 21jährige wunderte sich über die etwas altmodischen Manieren Kempowskis, aber, so sagte sie später, für sie sei sofort klar gewesen, daß sie beide heiraten würden. Vor allem sein Humor hätte sie spontan für ihn eingenommen.

Am 29. November 1956 notierte er: „Tanzstunde. Fräulein Janssen nach Hause gebracht. Bin für Sonnabend nachmittag 16.30 Uhr verabredet. (…) Wie wird es weitergehen? Mitleid – Heimkehrer – Opfer? Nein! Ich bin ein normaler Mensch geworden, ohne daß ich es gemerkt habe.“ Einen Monat später: „Bautzen ist beendet. Die neuen Eindrücke sind, nicht zuletzt durch H(ildegard) so stark, daß B(autzen) verblaßt oder glorifiziert wird. Es wird in meiner Person immer vorhanden sein, in Urteil und Gemüt.“ Die Liebe befähigte ihn, aus der Verbindung von erlittener Tragik und sublimierender Komik den einzigartigen, Kempowski-typischen Sarkasmus zu kreieren, dem zwei Sätze genügten, um verlogene Posen und Heuchelei in Grund und Boden zu stampfen: Am 19. Oktober 1989, als es in der DDR gerade hoch her ging, notierte er: „Heute hat die SED gefordert, die Demonstrationen müßten gewaltfrei sein. Was man von den Untersuchungskellern der Stasi hört, klingt aber nicht sehr friedlich.“ 

Es ging zunächst bescheiden zu. Die Hochzeitsreise führte nach Lüneburg, wo der junge Ehemann gerade noch rechtzeitig bemerkte, daß das Hotelzimmer zu teuer war und er schnell ein billigeres organisierte. Der Schwiegervater vermittelte ihm eine Lehrerstelle in Breddorf, Landkreis Rotenburg (Wümme); es gab dort, was keine Selbstverständlichkeit war, eine freie Lehrerwohnung. 

Hildegard Kempowski war, wie Fritz J. Raddatz nach einem Arbeitsbesuch notierte, eine „erstaunlich heiter-normale Frau“. Die Rollen waren zwischen den Eheleuten eindeutig verteilt. Gönnerhaft sagte Kempowski zu ihr: „Du darfst ruhig beim Gespräch dabei sein, (Hildegard), wenn du dich ruhig hinten in die Ecke setzt.“ Was sie prompt auch tat. Danach wies er sie an: „‘Um Punkt drei bitte Kaffee und Kuchen’ – was denn auch die Frau des griesgrämigen Genies Punkt drei serviert“, so Raddatz. Wobei man sich fragen kann, ob dem Gast nicht auch ein bißchen Kabarett vorgespielt wurde.

In Kempowskis Tagebüchern erscheint sie als eine höchst selbstbewußte Frau, die ihm an Sarkasmus durchaus ebenbürtig war. Im Sommer 1989 erzählt er ihr einen Traum, in dem er seine Lederhandschuhe gesucht hatte. Sie: „War’s kalt?“ Er notierte pikiert, daß sie sich einen Schwips antrank, wohl wissend, daß er Alkohol nicht mochte.

Offenbar war sie das lebenskluge – und tüchtige Faktotum, ohne das Dichter weder werken noch wirken können. Die zweifache Mutter hatte überdies ebenfalls als Lehrerin gearbeitet und war für das Wohnhaus Kreienhoop in Nartum bei Bremen zuständig, das durch Archiv-Anbauten immer größer wurde. Sie ging ihrem Mann auch bei seiner Arbeit am „Echolot“ zur Hand. In der letzten Phase seiner Krebserkrankung blieb sie ihm eine resolute Stütze, gefühlvoll, aber unsentimental. Als Raddatz sich am Telefon erkundigte, ob es vielleicht besser gehe, beschied sie ihn, nein es gehe nicht besser, eher schlechter, „so is dis nu mal“.

Sie ging ihm bei der Arbeit am „Echolot“ zur Hand

Ein Bestsellerautor war Kempowski schon längst, doch kollegiale und öffentliche Anerkennung erfuhr er erst spät. Wie schwer seine Frau an der Ignoranz mitzutragen hatte, verriet sie in einem Interview: „Ich empfinde mich schon, muß ich ehrlich sagen, jetzt befreit von seiner Not, seiner ewigen Lebensnot, nicht anerkannt zu werden.Wenn er gelesen hat, der und der hat wieder einen Preis gekriegt – und er selbst eben nicht. Davon konnte man ihn kaum ablenken. Das war wirklich wie Rühren in der eigenen Wunde.“  Nach seinem Tod stand sie der 2005 gegründeten Stiftung Haus Kreienhoop vor, das damit auch zu einem öffentlichen Veranstaltungsort geworden ist.

Im Ergebnis erscheint das Leben dieser Frau, die sich ganz in den Dienst ihres Mannes stellte, viel reicher, erfüllter und unverwechselbarer als das ihrer modernen Geschlechtsgenossinnen, die sich dem Rollenzwang der vordergründigen Emanzipation unterwerfen. Indem sie zu einem großen Werk beigetragen hat, ist sie darin eingegangen. Das bleibt.