© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Aus der Spur geworfen
Kinostart: „Das zweite Leben des Monsieur Alain“ von Hervé Mimran
Sebastian Hennig

Eines Morgens wird der Manager der Autoindustrie Alain Wapler (Fabrice Luchini) von einem Hirnschlag getroffen, doch nicht aus heiterem Himmel. Lange hat er gehaust wie die Axt im Walde. Diese Axt wurde nun an seinen Stamm gelegt.

Zu Beginn von „Das zweite Leben des Monsieur Alain“ wälzt Monsieur sich ruhelos auf dem Lager. Das Weckradio malträtiert ihn vor Tagesanbruch mit den Wirtschaftsnachrichten. Während des eiligen Frühstücks werkelt in Reichweite die schwerhörige Haushälterin in der Küche. Bezeichnend ist das laute Radiogeplärr, mit dem diese sich mitsingend einhüllt. „Papa, wo bist du?“ will der belgisch-ruandische Sänger Stromae wissen. Das könnte auch Waplers Tochter Julia (Rebecca Marder) fragen, die ihn vertraulich kaum zu fassen bekommt. „Ich erhole mich, wenn ich tot bin“, erwidert Wapler auf besorgte Einwände gegen den Raubbau.

Daß er bereits auf der Schwelle zum Tode tänzelt, erweist sich, als er auf der Treppe vorm Haus die Gewalt über seinen Körper verliert und in grotesker Form hingleitet. Zwar rappelt er sich sofort wieder auf und läßt sich umgehend ins Büro fahren. Doch dem Chauffeur ist nichts entgangen. Am vorschnellen Ende des gewaltsam verkürzten Arbeitstages wird er ihn schließlich aus eigener Initiative in der Ambulanz abliefern.

Zuvor überfährt Wapler aber noch einen Jugendfreund aus der Firmenleitung mit äußerster Brutalität. Seine böse Nötigung dient der vermeintlich guten Sache: Eine Presseerklärung für ein neues spektakuläres Elektroauto soll vor dem Automobilsalon in Genf durchgepeitscht werden. Doch die Mobilität des Einpeitschers selbst erweist sich bald danach als nachhaltig eingeschränkt. Er wird in Meßröhren gefahren und muß medizinisch versorgt werden.

Als er wieder aufwacht kommt ihm, ohne das er es merkt, lauter unsinniges Zeug von den Lippen. Er vertauscht die Reihenfolge der Wortsilben. Die Haushälterin kann sich das Lachen nicht verkneifen über den Schwachsinn, welcher dem sonst so kontrollierten Macher entfährt. Seine Willenskraft befindet sich  im Mißverhältnis zur Fähigkeit, sich zu artikulieren.

Wirtschaftsmanager verheimlichte Schlaganfall

Von dieser Ausgangslage geht das moderne Märchen los. Die gute Fee ist eine Logopädin mit Migrationshintergrund. Jeanne (Leïla Bekhti) wird zur ziemlich besten Freundin ihres ebenso ehrgeizigen wie ungeduldigen Schülers.

Den Grundstoff dafür liefert der autobiographische Roman „J’étais un homme pressé“ des Wirtschaftsmanagers Christian Streiff. Dieser verheimlichte nach einem schweren Schlaganfall aus einer Art Staatsraison drei Monate lang seinen Zustand, um dann für diese Loyalität binnen Stunden entlassen zu werden. Auch Wapler wird im Film nach einer mühsam von der Logopädin assistierten Präsentation zum Autosalon gefeuert. „Wir brauchen keine Träumer. Wir verkaufen Autos“, bekommt er von seinen früheren Kollegen zu hören. Sein Chauffeur wird gleich mit entlassen, weil er seinen stets unfreundlichen Ex-Chef entgegen den Anweisungen nach Hause fährt. Dafür bekommt er von diesem zum erstenmal Dankesworte zu hören. 

Als Filmschauspieler gelangte der jugendliche Fabrice Luchini mit Eric Rohmers „Vollmondnächte“ zum Durchbruch. Fünfunddreißig Jahre später hat er nun vor allem derangiert und traurig zu blicken. Er tapert in das Sterbezimmer seiner Frau und muß sich von der Tochter erklären lassen, was es mit dem leeren Pflegebett dort auf sich hat. Verstört betrachtet er die Fotografien seiner Familie. Mit billigen Mitteln wird Mitgefühl abgepreßt. Ein Mann, der keine Zeit für seine Tochter hatte, beansprucht nun deren Zuwendung.

Im Morgengrauen bricht er mit neuer Funktionsjacke und Bergschuhen zu einer Eisenbahnfahrt auf und rettet auf dem Jakobsweg ein Rehkitz vor dem Ertrinken. Ein solches Geschehen büßt allein durch die Zurschaustellung seine Würde ein und führt zu einer albernen Szene. Diese wurde aus  Streiffs Lebenserinnerungen für den Film übernommen. Letztlich wird der Arbeitscharakter dieses Lebens fortgesetzt mit den Mitteln, die verblieben sind. Ziele müssen zielstrebig erreicht werden, nach dem Automobilsalon nun die Kathedrale des heiligen Jakobus. Alain sitzt beim frugalen Mahl mit den anderen Pilgern zusammen und wird schließlich von seiner Tochter eingeholt, vor der er früher stets geflohen ist.

Der Wiederholungswitz der Silbenverdrehung, zum Teil die Sätze ungewollt ins Obszöne abgleiten lassend, bleibt bei der deutschen Synchronisation auf der Strecke. Aber das ist kein schwerwiegender Verlust. Dieser tragikomische Film verfügt ohnehin über den Tiefgang eines Luftkissenbootes.

Filmstart am 22. August 2019