© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Der ewige Druck des Versagens
Bismarcks Taufpate und Kolonialschriftsteller: Zum 150. Geburtstag Stefan von Kotzes
Ralf Küttelwesch

Die frühen Nebel steigen am Ostermontag im Schloßpark derer von Kotze in Klein Oschersleben. Einsam steht er da, ein großkalibriges Gewehr in der Hand. Schwach hängt der Arm mit der mächtigen Waffe am schlanken Körper des erst 39 Jahre alten Schriftstellers herab. Soll er es wirklich tun? Schwer wog die Herabsetzung durch die Familie, die sich zu den Osterfeierlichkeiten im Schloß versammelt hatte. Er war nicht wie seine Brüder und alle anderen seiner männlichen Familienangehörigen hoher Beamter oder Offizier geworden, nur ein Schreiberling, ein Versager. Er galt als Schwarzes Schaf der Familie und sie ließ es ihn spüren. 

Von der Familie in die Südsee abgeschoben

Die frühere preußische Provinz Sachsen und das heutige, von Harz und Börde geprägte, Bundesland ist nicht nur das Land der Frühaufsteher, wie einmal behauptet wurde, es ist auch die Heimat des Schriftstellers und Abenteurers Stefan von Kotze. Er wurde am 23. August 1869 in Klein Oschersleben bei Magdeburg geboren und war zumindest ein literarischer „Frühaufsteher“. Ja, das war er. Sein lockerer Schreibstil und sein oft sarkastischer Humor erstrahlten schon in seinem frühen Werk, „Aus Papuas Kulturmorgen“ 1903. Damit war ein jugendfrischer Schreibstil geboren, der sich wohltuend von dem seiner Zeitgenossen abhob. 

Bereits als unangepaßter Schüler war er der Außenseiter in seiner Familie. An der Privatschule stand er kurz vor dem Rauswurf, und nur durch Intervention seines Großonkels und Taufpaten, Reichskanzler Otto von Bismarck, blieb er weiter dort Schüler. Für ein Studium reichte es nicht, blieb das Militär. Doch die Fußstapfen seiner männlichen Verwandten, die allesamt Offizierskarrieren machten, hatten nicht seine Schuhgröße. Als Seekadett und Kamerad von Carl von der Osten-Fabeck versagte er und nahm seinen Abschied.

Die Familie beschloß das „Problem“ mit Hilfe der deutschen „Neuguinea Compagnie“ als Angestellten in das deutsche Schutzgebiet Papua-Neuguinea abzuschieben. So zog er 1887, mit gerade mal 18 Jahren, von der grauen Magdeburger Börde in die bunte, durch die Härten des Lebenskampfs geprägte Welt voller Abenteuer und Skurrilitäten. Dort, ausgerechnet auf dem Bismarckarchipel, entstand sein erster prosaischer Text: „Aus Papuas Kulturmorgen“, der überarbeitet und erweitert unter dem Titel „Südsee-Erinnerungen“ zum Bestseller wurde.

Die Nachrichten über Goldfunde in Australien ließen ihn die ohnehin wenig geliebte Stellung kündigen. Das Goldfieber hatte ihn gepackt, die Aussicht, hier sein Glück zu finden und der Familie zu beweisen, daß er doch zu etwas taugte. Auch daraus wurde nichts. Nach einigen Erfolgen und mehr Mißerfolgen als Goldsucher arbeitete er dann im Außendienst für eine Minengesellschaft in Charters Towers. Sein Drang, sich literarisch zu äußern, führte ihn zu verschiedenen Redaktionsposten. In der Zeit von 1895 bis 1899 arbeitete er für mehrere Zeitungen. Hier lernte er den Pfarrer und Schriftsteller Rudolf de Haas kennen, der ihm sein Buch „Unter australischen Goldgräbern“ widmete. Seine Erlebnisse auf diesem neuen Kontinent faßte von Kotze in seinem zweiten Bestseller „Australische Skizzen“ zusammen, die, wie die „Südsee-Erinnerungen“ in mehreren Auflagen erschienen sind. „Ein brillantes Erzähler-

talent weiß hier aus Steinen Saft zu drücken, das sterile Australien mit humorvollen Skizzen zu befruchten“, lobte die Kreuz-Zeitung. 

Eine Anthologie „Aus einer neuen Literatur“, eine Sammlung von Texten australischer Autoren, hatte weniger Erfolg. Wohl aber sein Buch „Die Antipoden“, das im Verlag Factum-Coloniae vor einigen Jahren als Neuauflage erschienen ist.

Tucholsky lobte seinen Humor in höchsten Tönen

In die Heimat zurückgekehrt arbeitete er als Redakteur bei der Berliner Täglichen Rundschau. Als solcher wurde er 1902 von dem erst 15jährigen Walter Flex gebeten, sein Gedicht zum Burenkrieg (1899 bis 1902 ) abzudrucken. Das Gedicht ist leider nie erschienen, es befindet sich im Archiv der Stefanvon-Kotze-Gesellschaft. 

Sein Redaktionskollege Adolf Petrenz, Entdecker und Förderer von Gottfried Benn, erhob ihn posthum zum „Wahlverwandten“. Von Kotzes Titel seines warnenden Essays über die vermeintliche Überflutung Europas durch Chinesen „Die gelbe Gefahr“ (1904) wurde zum allgemeinen Schlagwort in Deutschland. Im gleichen Jahr hatte er sich, weit vorausschauend, mit der Frage der Emanzipation in dem Essay „Altjungfernkoller: Randbemerkungen zur Feministik“ (Neuauflage Factum-Coloniae) beschäftigt. In einem Nachruf, „Etwas von Humor“, erhielt er von Kurt Tucholsky, der ihn auch zu Lebzeiten sehr schätzte, höchstes Lob: „Ihm schlug in der Brust das ewig unruhige, nie zufriedene, in Sehnsucht emporverlangende Herz des Deutschen. Und in einer Kammer dieses Herzens: Da wohnt der Humor.“ 

All diese Ehren heilten nicht die Wunden, die ihm die eigene Familie geschlagen hatte. Stefan von Kotzes erstes Werk, ein Gedichtband, trägt den Titel „Der letzte Mensch“ (1902). Ein Begriff aus Nietzsches „Zarathustra“ (1891) der seine „Rede vom letzten Menschen“ mit den Worten einleitet: „Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.“ 

Am 11. April 1909 hob Stefan von Kotze die schwere Waffe gegen die Schläfe, sie rutschte weg. Erneut hob er den Lauf, setzte ihn unter das Kinn und drückte ab. Ein bemerkenswertes literarisches Talent hatte sich verabschiedet. Nach außen wurde sein Tod als Folge eines Herzinfarkts dargestellt. Sogar in der New York Times erschien diese Meldung. Im Kirchenbuch der evangelischen Kirche in Klein Oschersleben ist vermerkt, daß seine Mutter, Nichte des Reichskanzlers Bismarck, aus Gram über den Freitod ihres Sohnes wenige Wochen später verstarb. 

Stefan von Kotze: Die Antipoden. Stimmungen von Da Drunten. Verlag Factum-Coloniae, Mittenwalde 2016, broschiert, 160 Seiten, 12,90 Euro

In der evangelischen Kirche in Klein Oschersleben (Sachsen-Anhalt) ist eine Dauerausstellung zu Stefan von Kotze zu sehen. Die Stefan-von-Kotze-Gesellschaft bereitet gerade eine Biographie vor.

 www.facebook.com/