© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Antisemitismus als Teil der polnischen Gedenkkultur
Einheiten der „Nationalen Streitkräfte“ im Zweiten Weltkrieg: Eine Studie über die Fernwirkung des historischen Judenhasses im heutigen Polen
Oliver Busch

Auch historisch Kundige außerhalb Polens wissen, was es mit der Armia Krajowa (AK), der „Heimatarmee“ auf sich hatte. Als bewaffneter Arm der polnischen Exilregierung in London organisierte diese Untergrundarmee schon im Herbst 1939 den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft, der im August 1944 im „Warschauer Aufstand“ mündete, den weit überlegene Einheiten von Wehrmacht und SS erst nach achtwöchigem Häuserkampf niederschlagen konnten. 

Es nicht verwunderlich, daß die personell und ideologisch im Pilsudski-Staat der Zwischenkriegszeit wurzelnde Armia Krajowa wegen ihres spektakulären Untergangs in Warschau die am meisten bekannte, mit etwa 350.000 Mitgliedern überdies die größte Widerstandsformation, immer, auch während des kommunistischen Volksrepublik-Regimes, das Zentrum des Identität stiftenden konservativ-bürgerlichen kollektiven Gedächtnisses bildete. Und doch ist der AK ausgerechnet heute, wo die rechtskonservative Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) den Kurs der offiziellen Gedenkpolitik diktiert, harte Konkurrenz erwachsen. In Gestalt einer anderen, im Westen nahezu unbekannten, von der PiS gezielt aufgewerteten Gruppierung des polnischen Untergrunds und deren Erbverwaltern. 

Es handelt sich um die Narodowe Sily Zbrojne („Nationale Streitkräfte“, NSZ), an deren Beispiel der Berliner Osteuropa-Historiker Stephan Lehn-staedt das Nachwirken des „historischen Antisemitismus im heutigen Polen“ untersucht (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 6/2019).

Es sollte keinen Platz mehr für Minderheiten geben

Die NSZ entstand im September 1942 als eine Fraktion des polnischen Untergrundes, der keineswegs durch die nur im Rückblick so aussehende Geschlossenheit auffiel und identisch mit der AK war, sondern der in seiner Vielfalt die zerklüftete politische Vorkriegslandschaft Polens widerspiegelte. Im Unterschied zu den nationalkonservativ orientierten AK-Kämpfern, entstammten die NSZ-Partisanen dem radikalnationalistischen Flügel der Partei „Nationale Demokratie“, dessen Programm ihre charismatische Führungsfigur Roman Dmowski (1864–1939) fixiert hatte. Entsprechend sah die von Lehnstaedt auf drei Begriffe gebrachte NSZ-Agenda aus: ultranationalistisch, antidemokratisch, judenfeindlich.

An dem von Dmowski propagierten Ideal eines ethnisch homogenen Staates hielt die NSZ-Gefolgschaft, die etwa 75.000 Mann, darunter nur zirka 15.000 Bewaffnete zählte, während des Krieges unerschütterlich fest. Im „wahren Polen“, für dessen „Wiedergeburt“ man sich im Guerillakrieg gegen Wehrmacht und Rote Armee engagierte, sollte es daher keinen Platz mehr geben für Minderheiten. Deutsche, Ukrainer und Juden müßten nach dem Sieg das bis an Oder und Neiße vorgeschobene Polen verlassen. 

Mit Genugtuung registrierten die NSZler folglich die „Vorarbeit“ für die Vertreibung der Juden, die deutsche Besatzer leisteten. In einer von Lehnstaedt zitierten NSZ-Publikation vom Juli 1943, als die Ermordung polnischer Juden im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ bereits eine Million Opfer gefordert hatte, hieß es mitleidlos zynisch: „Wir beginnen schon langsam, die einst das Vorkriegspolen quälende jüdische Frage zu vergessen (…) Im Januar 1943 wurde der Rest der auf polnischem Boden lebenden jüdischen Bevölkerung auf eine halbe Million berechnet. Bis heute ist diese Zahl bestimmt auf die Hälfte gesunken – biologisch wurde das Judentum bei uns kräftig dezimiert. Von diesem Schlag wird es sich nicht mehr erholen.“

An anderer Stelle fand Lehnstaedt Ausführungen über den Aufstand des Warschauer Ghettos vom April 1943 im gleichen Duktus: „Aus dem Warschauer Ghetto erreichen uns Geräusche des Kampfes. Da wehren sich die restlichen juden [verächtlich machende Kleinschreibung im Original] vor der endgültigen Vernichtung“. Aber: „Es gibt alle Anzeichen dafür, daß die verdeckten juden im Land und die jüdische Emigration im Ausland sich zu einer Offensive um den Einfluß in Polen zusammentun und lediglich ihre Taktik geändert haben. Die jüdische Frage muß im zukünftigen Polen gelöst und wird endgültig erledigt werden.“ Was bedeute, die Überlebenden, der leider „beträchtliche Teil der juden“, der sich vor der „Liquidation“ gerettet habe, auszuweisen und jüdische Emigranten die Rückkehr zu verwehren: „Wir müssen darauf drängen, daß die juden nach dem Krieg nicht erneut nach Polen zurückkehren, sondern in der Emigration bleiben oder nach Palästina auswandern. Das danach vorhandene jüdische Eigentum, das Milliarden Zloty wert ist, wird nach der Übernahme durch den Polnischen Staat erlauben, die Wunden zu heilen, die Kriegszerstörung [zu beheben] und eine Reihe wichtiger Reformen durchzuführen.“

Ermordung jüdischer KZ-Überlebender

Der fanatische Judenhaß ging dabei soweit, im Juli 1942 zur „Bestrafung“, das meinte: zur Tötung von Landsleuten aufzurufen, die Juden vor den Besatzern verstecken. Um letztlich dann doch nicht die „Liquidation“ gänzlich den Deutschen zu überlassen, legten NSZ-Kommandos beim Judenmord selbst Hand an. Ungeachtet „großer Quellenprobleme“, die eine konkrete Rekonstruktion nahezu unmöglich machen würden, sei es angelsächsischen und polnischen Historikern gelungen, „Einzelfälle“ des schauerlichen Treibens der „Judensuche“ zu dokumentieren, das durchweg mit Erschießung und in einem Fall sogar mit der Erschlagung von 20 Juden und Jüdinnen in Ostpolen („um Munition zu sparen“) endete.  

In der Bürgerkriegslage während der Anfangsjahre der Volksrepublik Polen setzten NSZ-Angehörige, die als Gewalttäter auch bei der Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen des Reiches in Aktion traten, ihre Praxis der „schnellen Exekutionen“ jüdischer Überlebender der Vernichtungslager fort. Dabei weiterhin jener Anschauung Dmowskis getreu, die „Judäo-Kommunisten“ zu den doppelt gefährlichen Feinden Polens rechnet. 

Allerdings waren diese Menschenjagden nur ein Nachspiel. Größere, im Kampf gegen die Rote Armee 1944/45 mit der Wehrmacht verbündete NSZ-Einheiten setzten sich in den Westen ab, und ihre Veteranen pflegten das Andenken an die „Kampfzeit“ zumeist vom US-Exil aus. Die Erinnerungspolitik der Volksrepublik Polen tilgte indes die NSZ aus dem nationalen Gedächtnis, weil sie mit ihrem militanten Antikommunismus nebst Kollaboration die „Einheit des Widerstands“ verraten habe.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs profitierte die Nachfolgeorganisation ZZ-NSZ von dieser Ächtung, und das Pendel schlug im Zeichen des erstarkenden Nationalismus und der Verdammung der sozialistischen Vergangenheit in die andere Richtung aus. Heute ist das NSZ-Erbe Teil der polnischen Gedenkkultur. Vom Judenhaß dieser im Sejm als „Helden“ verehrten Partisanen ist kaum die Rede, von ihrem Antikommunismus und vom angeblich entscheidenden Beitrag, den die „Nationalen Streitkräfte“ für die Unabhängigkeit Polens leisteten, um so mehr. Nur die schwache Linke opponiert noch und wettert gegen die Glorifizierung dieser „faschistoiden, xenophoben, rückschrittlichen Formation“. Den geplanten Bau eines Denkmals für die „Soldaten der NSZ“ dürfte dies nicht verhindern.

Die staatlich kultivierte, nicht erst mit dem PiS-Wahltriumph von 2015 beginnende NSZ-Verehrung erklärt Lehnstaedt mit der Revitalisierung der Gedankenwelt des Chauvinisten Dmowski, die für die politischen Vorstellungen der amtierenden Warschauer Regierung „konstitutiv“ sei. Darum sehe sie den weit über NSZ-Zirkel hinausreichenden historischen Antisemitismus nicht an sich als problematisch an, sondern als „außenpolitisches Imageproblem“, da Antisemitismus in den westlichen Demokratien nicht akzeptiert werde.

Doch trotz starker geschichtsklitternder Tendenzen und ihrer Bemühungen um die „Verschiebung des Sagbaren“ beherrsche die PiS nicht vollständig, wie es das Polen-Bild westlicher Leitmedien suggeriert, die öffentliche Kommunikation. Denn „Polen ist immer noch eine demokratische Gesellschaft, so daß die nach wie vor existierende kritische Forschung zwar unter finanziellen Kürzungen und verbalen Einschüchterungen leidet, aber durchaus im medialen Diskurs präsent ist“ – anders als die kritische Zeitgeschichtswissenschaft in Deutschland. 

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