© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/19 / 23. August 2019

Mühsal Pendeln
Gesundheitsrisiken in einer mobilen Gesellschaft
Christoph Keller

Arbeitsplatzabbau in der Peripherie, steigende Mieten und Immobilienpreise, Brennpunktschulen – immer mehr Menschen pendeln in die Ballungsräume. Der Tagespendler ist jedoch nur einer von vielen gestreßten Arbeitsnomaden, die Steffen Häfner, ein auf Verkehrsmedizin spezialisierter Arzt für Psychosomatische Medizin, im Organ des Deutschen Hochschulverbands präsentiert (Forschung & Lehre, 6/19).

Müde, unkonzentriert und höhere Unfallraten

Vor allem in Mitteldeutschland wohnen die Wochenendpendler, die am Arbeitsort einen Zweithaushalt unterhalten müssen. Es gibt „Variomobile“ wie Vertreter, Montagearbeiter und Piloten, die in Hotels und Gemeinschaftsunterkünften übernachten, sowie, bedingt durch die Notwendigkeit von zwei Einkommen, verschiedene Varianten von Fernbeziehungen, in denen jeder Partner über einen eigenen Haushalt verfügt.

Fürs Pendeln muß man geboren sein, wie Häfners Studien zeigen. In der Regel hielten nur Menschen mit guter körperlicher und psychischer Konstitution den täglichen Dauerstreß von Verkehrsstaus oder unpünktlichen Zügen lange unbeschadet aus. In diesem Daseinskampf sei von einer „Selektion“ der Nervenstärksten auszugehen. Was die Rate zur Frührente von Fernpendlern belege, die höher sei als bei Arbeitnehmern mit kurzen Anfahrtswegen. Pendeln ist längst kein Ausnahmephänomen mehr. Mehr als die Hälfte der von Häfner befragten Bahnpendler war seit fünf Jahren dabei, zwanzig Prozent hielten die Belastung sogar seit mindestens zehn Jahren aus.

Gesundheitliches Hauptproblem ist das Schlafdefizit. Damit einher gingen Tagesmüdigkeit, Unkonzentriertheit und höhere Unfallraten unter Autopendlern. Weitere Gesundskosten fallen primär bei Bahnpendlern an. Infektionskrankheiten breiten sich in hochmobilen Gesellschaften in der Regel entlang hochfrequentierter Verkehrswege aus. 

Wie die notorische Grippe in den Wintermonaten. Zudem begünstigen längere Pendelstrecken Bluthochdruck. Sehr verbreitet seien auch Übergewicht und Herz-Kreislauf-Beschwerden bei Auto-und Bahnpendlern infolge Bewegungsmangel und ungesundem Eßverhalten. Hinzu treten psychosomatische Streßfolgen. Berufliche Mobilität erfordere daher ein „regelmäßiges Überdenken der Notwendigkeit des Pendelns“.

Falls man sich den Ausstieg nicht leisten könne, dürften Vereinbarungen über flexible Arbeitszeiten, Beschäftigung im „Homeoffice“ oder die Erlernung von Entspannungstechniken wie Yoga oder Tai Chi Erleichterungen verschaffen. Ungeachtet dessen sollte jeder Pendler regelmäßig prüfen: „Muß und will ich weiter pendeln?“