© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Der Speck und der Rand
Reportage aus Brandenburg: Das Berliner Umland boomt, mit allen Folgen. Mit der Entfernung nehmen Idylle und Strukturschwäche zu
Martina Meckelein / Björn Beiersdorf

Vor dem frisch sanierten Rathaus drückt die in dem rechteckigen Springbrunnen verborgene Technik intervallartig sechs schmale Wasserfontänen in den Himmel. Am Scheitelpunkt, in etwa einem Meter Höhe, kippen sie in sich zusammen. Es ist warm, auf dem neugestalteten Rathausplatz wächst kein Baum – dafür ist alles neu gepflastert und asphaltiert, fast bis an die Berliner Straße. „Dann ging denen vermutlich das Geld aus“, sagt Axel Wisotzki völlig trocken. Keine Regung im Gesicht hinter den großen Brillengläsern. Der 70jährige ist Wirt und Eigentümer der Gaststätte „Zur Melodie“ in Wusterhausen an der Dosse. Das Café liegt genau am unsanierten Teil der Berliner Straße.

„Das Haus haben meine Großeltern gebaut, 1914 eröffneten sie hier eine Konditorei mit ihrem Familiennamen. So hieß es Café Frost.“ Die Großeltern stammten aus Berlin-Wilmersdorf. „Sie trauten aber Berlin keine Zukunft zu, gerade vor dem Hintergrund des drohenden Ersten Weltkrieges.“ Im Grunde gingen sie schon vor hundert Jahren den Weg, den auch heute wieder viele Berliner antreten – raus aus der Stadt aufs Land. Ihren Standort suchten sie akribisch aus. „Er mußte in der Nähe eines Friedhofes liegen. Denn nach der Beerdigung möchte man ja noch einkehren“, erklärt Wisotzki die Strategie seiner Vorfahren. Außerdem liegt die Wirtschaft an einem alten Pilgerweg. Heute pilgern Radfahrer hier entlang.

Wisotzki ist in Wusterhausen aufgewachsen. Das Ackerbürgerstädtchen hat sich im Laufe der Zeit verändert. „Es gibt nur noch einen Großbauern, der verkauft die Kartoffeln an die Stärkeindustrie“, sagt Wisotzki. Die Großschlachterei hat aufgehört zu existieren. „Die Menschen fahren zur Arbeit nach Berlin“, erzählt seine Beiköchin Silke Schulz (57). Eine Stunde zehn Minuten beträgt die Bahnfahrt bis Berlin-Hauptbahnhof. Sie selbst mag die Hauptstadt, wie auch alle anderen Städte, nicht. Zu groß, zu stressig, zu viele Menschen. Manchmal besucht sie ihre Tochter in Kiel. „Nach drei Tagen bin ich froh, wieder hier zu sein.“

Ein Bauer wurde verklagt, weil sein Hahn krähte

Peter Gierke zog vor über 20 Jahren nach Wusterhausen. Er stammt aus Berlin-Neukölln. „Zu viele Irre in der Stadt“, sagt der 60jährige. In Wusterhausen gibt es mit niemandem Ärger. „Nicht mit Linken, nicht mit Rechten oder Asylanten – die sind alle pflegeleicht.“ „Man kann den Eindruck bekommen, daß uns die Welt da draußen nicht interessiert“, sagt Gierke. „Stimmt schon irgendwie. Aber wir haben hier alles, was wir brauchen. Aldi, Ärzte, und ein Auto kriegste immer irgendwo geliehen, um weiter wegzufahren. Mußt auf dem Land dein Leben eben gut organisieren.“

„Nee“, sagte zuvor die Küchenhilfe, „ich werde nicht wählen, es ändert sich doch eh nichts.“ Wisotzki schaut stoisch auf die Straße, beobachtet die wenigen Autos, die auf der ehemaligen Durchgangsstraße an seinem Café vorbeifahren. Er hat schon per Briefwahl gewählt. „Wenn man nicht wählen geht, nicht daran teilnimmt, kann man auch von der Politik nichts erwarten.“ Wisotzki ist parteilos, er bedauert allerdings den Abstieg der SPD, sie müßte seines Erachtens „wieder bürgernäher werden“, und er kritisiert sie scharf: „Der SPD geht es nicht mehr um Ideale, der geht es um Diäten.“ Allerdings setzt er gleich hinterher: „Die AfD würde ich nicht wählen.“

Bis 80 Jahre, so Wisotzkis Planung, will er weitermachen. „Vielleicht übernimmt einer der Enkel die Gaststätte.“ Und wenn nicht? „Ach wissen Sie, wir Brandenburger sind geduldig, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dafür sorgt schon der liebe Gott.“

So geduldig scheinen einige Brandenburger doch nicht zu sein. Ein Polizeibeamter, seit 30 Jahren im Dienst, hat gleich eine ganze Latte an Wünschen, die besser heute als morgen erfüllt sein sollten. Er wohnt bei Falkensee, eine durch Eingemeindung 40.000 Einwohner zählende Stadt im Speckgürtel westlich Berlins. „Speckgürtel, das mag Glück bedeuten“, sagt er. „Klar, unsere städtischen Gebühren sind seit 25 Jahren stabil, die Finanzsituation durch die Pendler gut. Der Genderwahn ist in den Grundschulen bisher nicht angekommen. Wir haben niedrige Arbeitslosigkeit.“ Das ist die eine Seite der Medaille, die andere ist aber begründet durch die Stadtflucht. „Die Einbruchszahlen steigen, gerade in Häusern am Waldrand. Wir vermuten, weil die Täter über die Dächer einsteigen, daß die sich vorab auf Google-Maps orientieren.“

In Falkensee steigt die Drogenkriminalität. „Vor ungefähr zwei Jahren wurde hier ein Amphetaminlabor hochgezogen, es wurde dann entdeckt. Bei den Älteren, denen, die schon lange hier wohnen, steigt der Frust“, sagt der Beamte. „Nicht nur wegen der neuartigen Kriminalität, sondern auch weil immer mehr Städter aus Berlin mit rot-grüner politischer Einstellung hierher ziehen. Die Grünen werden hier stärkste Kraft, gerade durch die Zugezogenen aus den westlichen Bundesländern.“ Er beklagt eine zunehmend gespaltene Gesellschaft, „die Leute sind weniger diskussionsbereit“.

Der Immobilieninvestor Semmelhaack hat in Falkensee viel gebaut, schafft Platz für die verdrängten Berliner, die aufs Land ziehen, weil sie sich die Preise in der Bundeshauptstadt nicht mehr leisten können. Diese Entwicklung verdrängt wiederum Brandenburger aus ihrer Heimat.

In dieser Situation ist Maxi Schwebig (28). Ihre Eltern haben vor 25 Jahren ein Stück Land in Dallgow-Döberitz gepachtet, südlich von Falkensee. Aus dem Pferdestall wurde ein Wohnhaus. Die Studentin der Veterinärmedizin lebt mit ihren Eltern zeitweise auf dem Land. Ein Plattenweg, der zu einer Schotterpiste wird, führt zu dem abgelegenen Idyll. Jetzt sitzt sie auf Umzugskartons. Sechs schottische Hochlandrinder, sechs Pferde, vier Hunde, Vögel, Hühner und Goldfische müssen mit umziehen. „Unsere Vermieterin hofft seit vier Jahren, daß die Fläche hier zu Bauland wird – wir müssen jetzt raus“, sagt Schwebig. Für ihre Mutter ist das ein schwerer Schritt. Sie kommt nur kurz zu dem Gespräch, hat Tränen in den Augen und wirft dann den Hühnern etwas Salat in das Gehege. „Ich kenne jede Pflanze, wir haben hier soviel investiert an Liebe, Zeit und Geld.“

„Es fällt natürlich schwer, von hier wegzugehen“, sagt Maxi Schwebig. „Hier sind unsere sozialen Strukturen, Familie, Freunde. Wir haben gekämpft, um hierbleiben zu können, aber jetzt ist ein Schlußstrich gezogen.“ Es geht ins 70 Kilometer entfernte Brück. Dort haben ihre Eltern einen Vierseitenhof kaufen müssen. Verdrängung in Brandenburg – die Berliner haben das dickere Portemonnaie.

„Überall hier in Brandenburg besteht die Gefahr, daß es den Alteingesessenen so geht“, erklärt die Studentin. „Hier wohnen jetzt viele Neureiche aus Berlin. Die haben keinen Bezug zum Landleben. Die ärgern sich über Pferdeäpfel auf der Straße. Ich habe erlebt, wie eine Autofahrerin anhielt und schimpfte, daß ihre Reifen dreckig würden. Hier wurde ein Bauer verklagt, weil sein Hahn krähte.“ Schwebig kann sich diese Auseinandersetzungen nur so erklären: „Die Städter werden aus der Stadt verdrängt, ziehen aufs Land und bringen ihre städtischen Lebensvorstellungen mit.“

Halbleiterwerk, Molkerei, Schuhfabrik – alles weg

Was Neuzugezogene im Dorf verändern, erlebt gerade Sigrid Herion (71) aus Schulzendorf bei Königs Wusterhausen. Die mehrfache Uroma ist Gemeindevertreterin der AfD in der Stadtrandgemeinde zu Berlin. „Wir haben jetzt über 8.000 Einwohner, und es kommen 480 Wohneinheiten dazu. Das Einkaufszentrum ist zu klein, es fehlen Ärzte, wir haben keinen Augenarzt und keinen Radiologen. Das Abwassersystem ist für so viele Anwohner nicht ausgelegt. Das sind Probleme, die durch zu schnelles Wachstum entstehen. So habe ich mir unser Brandenburg nach der Wende nicht vorgestellt.“

Die gelernte Technische Zeichnerin steht am Wahlkampfstand der AfD auf dem Bahnhofsvorplatz von Königs Wusterhausen. Großes Aufgebot: Die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel, der Brandenburger AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz und Steffen Kotré, Bundestagsabgeordneter für Brandenburg und Kreisvorsitzender der AfD Dahme-Spreewald. Wahlkampfhelfer verteilen Aufkleber, Bierdeckel, Kulis. Eine Frau um die 50 in einem leichten Sommerkleid will von der AfD nichts annehmen. Eine andere steckt die Werbegeschenke ein. „Das ist von der AfD“, sagt die erste angewidert. Da fragt die zweite: „Und? Von den Linken würden Sie es nehmen? Von denen, die einer Ideologie folgen, die 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat?“ Die Angewiderte sagt nichts. Sie steigt in einen weißen BMW – mit Berliner Kennzeichen.

62,5 Kilometer Luftlinie weiter im Osten liegt das nach dem Zweiten Weltkrieg geteilte Frankfurt (Oder). 93 Prozent der Innenstadt wurden damals zerstört. Jetziger Oberbürgermeister ist René Wilke von der Partei Die Linke. Seit 58 Jahren wohnt Dieter Grasse (76) im Westen der Stadt in einem Einfamilienhaus mit kunstvoll gestaltetem Hanggarten. Eine Idylle. Um so erstaunlicher sein Urteil: „An Frankfurt gefällt mir gar nichts“, sagt der graphische Maler. „Die Stadt ist tot, die Kaufkraft schlecht. Die Läden sind durchweg Billigheimer. Die Gastronomie liegt am Boden. Die gesamte Infrastruktur, sei es die ärztliche Versorgung oder der Kulturbetrieb, ist zerstört, und das Umland ist durch den schlechten öffentlichen Personennahverkehr abgehängt.“ Die Leute fahren zum Einkaufen nach Polen, Grasse tut das nicht. „Ich bin der Ansicht, daß das bißchen Kaufkraft, das wir hier noch haben, im Lande bleiben sollte.“

Und Grasse schildert, wie es früher, also zu DDR-Zeiten war. „Da hatten wir ein Halbleiterwerk mit 8.000 Mitarbeitern, einen Schlachthof, eine Molkerei, eine Schuhfabrik, Handwerker, Obstbauern, das Klinikum.“ Geblieben ist nicht viel. „Na ja, das letztgenannte – alles andere ist weg.“

Grasses Garten ist eingezäunt, die Garage hat ein elektrisches Rolltor. „Aber erst seit 2016, vorher brauchten wir das nicht.“ An einem Sommertag in dem Jahr stand plötzlich ein Flüchtling in seinem Garten. „Der sah aus wie ein Marokkaner, setzte sich auf die Terrasse und verlangte Kaffee“, erzählt Grasse. „Ich habe ihn mit einem Nachbarn vom Grundstück gescheucht.“ Polizei alarmierte er nicht, das bringe doch nichts, meint der Rentner. Zum Abschied sagt er: „Das ist die Realität, das sind unsere Probleme, und die linken Spinner reden all das schön. Vor dem Realitätsverlust der Politik kann man regelrecht Angst bekommen.“