© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Grüße aus Odessa
Der große Unterschied
Anna Veronika Wendland

Mein neuer Lieblingsort in Odessa: die Kanatka. Das ist die Seilbahn, welche den großstädtischen Französischen Boulevard mit dem Schwarzmeerstrand verbindet. Sie erspart einem den steilen Ab- und Aufstieg. Den Durchgang von der Straße zum Strandweg ziert eine Art orientalisches Tor, und dann geht es durch Gärten und Akazienbestand abwärts.

Die Kanatka wurde 1971 erbaut und ist ein echtes Original mit den Macken von Originalen. Man muß sie nämlich im Fahren besteigen und bekommt als Anweisung von der Operatorin: „Rechte Hand, linker Fuß!“ Mit der rechten Hand die Kabine greifen, mit dem linken Bein zuerst und in Fahrtrichtung mitlaufend einsteigen, beim Ausstieg umgekehrt. Aus diesem Grunde fährt die Kanatka nahezu Schrittempo. Man steigt auf, läßt sich auf seinen Sitz fallen, aber halt! Erst muß man natürlich die kleinen Klapptürchen verriegeln, sowjetische Marke „unkaputtbar simpel“, würde natürlich keinem TÜV gefallen. 

Auf den Masten steht beruhigend: „Nicht die Kabine aufschaukeln! Sehr gefährlich!“

In jede der 45 Kabinen passen je zwei Fahrgäste. Jede Gondel ist liebevoll mit Motiven der, ich würde sagen, Popkultur der ausgehenden Sowjetunion verziert: Rosaroter Panther, Nu-pogodi-Wolf, Charlie Chaplin und die Simpsons schweben einträchtig mit goldgelben Zitronen auf grünem Grund, Flash Gordon, Trauringen, bunten Bällchen sowie einer grauen Kabine namens „Technicna“, die Wartungszwecken dient, durch den Himmel über Odessa.

Wer sich traut und 70 Hryvna bezahlt (ca. 2,30 Euro) wird mit einer grandiosen Aussicht aufs Meer belohnt. Auf den Masten steht beruhigend: „Nicht die Kabine aufschaukeln! Sehr gefährlich!“, und deswegen sitzt man still und brav in seinem Kabinchen und fragt sich, wie viele Odessiten wohl schon im Zustand der Trunkenheit aus Chaplin, den Simpsons oder den Goldenen Zitronen gefallen sind.

Wenn es jemand mal nicht schafft, auszusteigen, wird die Maschine ohne großes Zeremoniell angehalten, denn Kreisfahrten sind verboten. Neulich auf dem Heimweg trat so ein Fall ein, als wir gerade über dem tiefsten Abgrund schwebten, und ich dachte erst: „Wie, die machen schon Feierabend?“ Da hängt man also mutterseelenallein am Draht über Arkadien. Aber dann ertönt ein Klingelzeichen, zweimal, wie im Bergwerk, und plötzlich ruckt die Kanatka wieder an, was die Kabinen „sehr gefährlich“ ins Schaukeln bringt, und liefert einen tatsächlich oben ab. Gesamtnote: klasse!