© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Ökologische Mogelpackung
Energiewende: Als erste sächsische Großstadt will Leipzig bis 2023 unabhängig von der Braunkohle sein
Paul Leonhard

Leipzigs Stadtrat spekuliert mit der Sicherheit seiner Bürger. Beschweren können sich die Leipziger aber nicht: Am 26. Mai verschafften sie Rot-Grün-Rot zusammen mit Piraten und „Die Partei“ eine solide 60-Prozent-Mehrheit. Und die will wie SPD-Oberbürgermeister Burkhard Jung, daß die sächsische Universitäts -und Messestadt bis Herbst 2022 unabhängig von der Braunkohle ist. Dafür wurde der Vertrag mit dem Braunkohlekraftwerk Lippendorf der Leag zum 30. September 2022 gekündigt. Als Ersatz soll im Süden Leipzigs ab August 2020 für 150 Millionen Euro ein zusätzliches Gaskraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) und einem angeblichen Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent errichtet werden, das mit seinen drei Turbinen bis zu 150 Megawatt (MW) Strom und bis zu 180 MW Fernwärme produzieren soll.

Verschmähtes Kraftwerk soll Weiterversorgung absichern

15 bis 20 Jahre soll das Kraftwerk mit teurem Erdgas befeuert werden, danach, so hofft der Stadtrat, ständen umweltfreundlichere Technologien zur Verfügung. Flankiert werden soll das neue Gaskraftwerk mit Solarthermieanlagen mit einer Gesamtkapazität von 27 MW, einem Biomassekraftwerk mit 25 bis 30 MW Wärme und zehn MW Strom sowie dezentralen Blockheizkraftwerken mit einer Kapazität von 25 MW. Die Leistung der Wärmespeicher soll durch Neubauten auf 150 MW wachsen. Die Gesamtinvestitionen lägen hier bei weiteren 150 Millionen Euro.

Die Kosten für das Kraftwerk würden sich binnen 15 Jahren durch Subventionen komplett refinanzieren, verspricht OB Jung. Der Fernwärmebedarf der Stadt liegt derzeit bei 350 MW und wird zur Hälfe aus Lippendorf sowie dem bisherigen Gaskraftwerk der Stadtwerke gedeckt. Jung, ein aus dem Siegerland stammender Religionslehrer, scheinen indes die eigenen Planungen nicht ganz geheuer. Für den Fall, daß die neuen Ersatzanlagen zu spät fertig werden und bei Havarien hat der 61jährige einen Plan B: Verhandlungen mit dem Energieversorger Leag über eine eventuelle Weiterversorgung, zumindest aber ein Fernwärmepuffer auch nach 2022.

Schließlich sollen die Leipziger am Tag X nicht ohne Strom und Fernwärme dastehen. Bereits Ende Juni hatte es Berichte der Dresdner Morgenpost gegeben, nach denen Leipzig bis 2026, vielleicht sogar bis 2030 auf Fernwärme aus Lippendorf angewiesen ist. Daß die Leipziger auch bei minus 15 Grad sicher versorgt werden und der Preis bezahlbar bleibt, „ist mir jedenfalls wichtiger als ein Ausstieg mit der Brechstange zum Tag X“, so Jung. Daher könne er nicht sagen, ab welchem Jahr genau keinerlei Braunkohle-Nutzung mehr stattfindet.

Dies erzürnt den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND): „Wir wollen, daß erst dann mit der Leag verhandelt wird, wenn klar ist, ob wir ab 2023 noch Fernwärme aus Lippendorf benötigen – daher fordern wir ein Verhandlungsmoratorium bis 2022.“ Besonders ärgert den BUND, daß die Leag der Stadt drohe, „bereits jetzt für den Fall der Fälle keine Fernwärme zu liefern, wenn nicht schon jetzt feste Abnahmemengen ab 2023 vereinbart werden“. Gebe der Oberbürgermeister dem nach, würde Leipzig „nur scheinbar aus der Kohleversorgung aussteigen“ und die Leag würde ihr Kohlegeschäft retten. Tatsächlich wäre ein verlängerter Liefervertrag mit den Leipziger Stadtwerken für die Kraftwerksbetreiber, zu denen auch die im tschechischen Besitz befindliche Leag gehört, eine gute Nachricht. Denn nur wenn das erst seit 1999 am Netz befindliche Kraftwerk – mit modernster Feuerungs- und Filtertechnik – als „systemrelevant“ eingestuft bleibt, ist es vor einer vorzeitigen Abschaltung und vom Einspeisevorrang des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) geschützt.

BUND hofft auf eine zusätzliche CO2-Bepreisung

OB Jung hatte Ende 2018 in der Diskussion um den deutschen Kohleausstieg 2038 (JF 6/19) euphorisch angekündigt, Leipzig werde schon 2023 als erste sächsische Großstadt braunkohlefrei sein. Die Bedingung: ein zusätzliches Gaskraftwerk, das die 200 MW Wärmelieferung aus Lippendorf komplett ersetzen kann. In dem vorgelegten „Zielportfolio für die nachhaltige Wärmeversorgung“ wurde zudem vorgerechnet, daß sich der Neubau samt Biomassekraftwerk und Solarthermie rechne, da sich durch die pro Kilowattstunde gezahlten Subventionen die Investitionen für das neue Gaskraftwerk ausglichen.

Ob die Rechnung aufgeht, ist unklar. Die in den neunziger Jahren errichtete Gas- und Dampfturbinenanlage (GuD) der Leipziger Stadtwerke, die Strom und einen Teil der Fernwärme der Stadt produziert, kam 2018 auf nur 2.000 Betriebsstunden: Der Erlös aus Strom, Fernwärme und der KWK-Subvention deckte die Brennstoffkosten für das Gas nur an wenigen Tagen. Die Fernwärme aus Lippendorf war und ist billiger – auch für die Leipziger Bevölkerung.

Gutachter, die im Auftrag des Stadtrates den Ausstieg aus der Fernwärmeversorgung aus Lippendorf prüfen sollten, melden noch andere Bedenken an: Würden die Lieferverträge schon 2023 auslaufen, könnte die Versorgungssicherheit der 600.000-Einwohner-Stadt gefährdet sein. Sie bezweifeln, daß es der hoch verschuldeten Stadt in vier Jahren möglich ist, „ein zweites Gaskraftwerk, ein neues Biomassekraftwerk und mehrere Blockheizkraftwerke zu errichten, um damit die Wärmelieferung aus Lippendorf vollkommen zu ersetzen“, schrieb die Dresdner Morgenpost und zitiert einen Insider: „Schon ein Einspruch etwa eines Nachbarn gegen den Bau des Gaskraftwerkes kann das ganze Projekt um Jahre verzögern.“

Der Ausstieg Leipzigs aus der Fernwärmeversorgung ist zudem weder nachhaltig noch sinnvoll: „Er ist eher das Gegenteil, weil die bislang zur Versorgung der Stadt Leipzig genutzte Wärme aus dem Stromerzeugungsprozeß nach 2023 ungenutzt bleibt, die Stromproduktion aber voraussichtlich auf gleichbleibend hohem Niveau bleiben wird, um eine jederzeit sichere Stromversorgung in Deutschland zu gewährleisten“, rechnet Leag-Vorstand Hubertus Altmann vor.

Bürgerinitiativen im Südraum Leipzigs, wo das Gaskraftwerk gebaut werden soll, sprechen von einer „Mogelpackung“. Die Kommunalpolitik fährt daher zweigleisig: Die Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (LVV) will einerseits mehr als 670 Millionen Euro in das „grüne“ Fernwärme/Strom-Konzept zu investieren, andererseits sollen Verhandlungen mit der Leag erfolgen. Für Martin Hilbrecht vom BUND Leipzig ist das ein „absolut fatales Signal“ und im Hinblick auf die OB-Wahl 2020 „äußerst bedenklich“. Zudem werde auf Bundesebene „in den nächsten Monaten höchstwahrscheinlich eine zusätzliche CO2-Bepreisung eingeführt, welche die Wirtschaftlichkeit von Kohlekraftwerken weiter verschlechtern wird“.

Leipziger Stadtwerke:  www.l.de/





Braunkohlekraftwerk Lippendorf

Das Braunkohlekraftwerk Lippendorf ist eine Gemeinschaftsanlage der im Besitz der tschechischen EPH/PPF-Gruppe befindlichen Lausitz Energie AG (Leag) und des Karlsruher Energiekonzerns EnBW. Die 2,3-Milliarden-Euro-Investition mit modernster Feuerungs- und Filtertechnik ersetzte 1999 etwa 15 Kilometer südlich von Leipzig zwei Altkraftwerke aus den Jahren 1926 und 1965. Die beiden Kraftwerksblöcke besitzen jeweils 920 Megawatt (MW) Leistung – das entspricht der des EnBW-Kernkraftwerks Philippsburg 2. Das Grundlastkraftwerk Lippendorf liefert neben Strom und bis zu 330 MW Fernwärme auch Gips, der bei der Reinigung der stark schwefelhaltigen Rauchgase als Nebenprodukt entsteht. Die für den Betrieb nötige Rohbraunkohle kommt aus dem benachbarten Tagebau Schleenhain über eine 14 Kilometer lange Bandanlage direkt ins Kraftwerk. „Bei der Stromerzeugung erreichen wir einen Nettowirkungsgrad von 42 Prozent“, erklärt der Betreiber Leag.

 leag.de/