© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Verborgener Sprengstoff
Deutschland: 20,8 Millionen Menschen haben einen Migrationshintergrund – Tendenz steigend
Michael Paulwitz

Jeder vierte Einwohner Deutschlands hatte im Jahr 2018 einen „Migrationshintergrund“, verkündet das Statistische Bundesamt als Resultat des aktuellen Mikrozensus. Bei einer Gesamtbevölkerung von 81,6 Millionen sind das 20,8 Millionen Menschen; 2,5 Prozent mehr als im vorausgehenden Berichtsjahr 2017, für das bei 20,3 Millionen Menschen ein solcher „Migrationshintergrund“ festgestellt wurde. Anders als in dem vor einem Jahr publizierten Mikrozensus wurde infolge eines geänderten Erhebungsverfahrens also schon 2017 die Zwanzig-Millionen-Marke überschritten.

Unterschiedliche Gruppen werden vermischt

Für den Mikrozensus werden jährlich ein Prozent der Bevölkerung Deutschlands befragt und die dadurch gewonnenen Daten hochgerechnet. Das Zahlenmaterial enthält also einen gehörigen Anteil an Berechnungen und korrigierenden Annahmen, was auch verschiedentlich auftretende Abweichungen zu anderen kursierenden Statistiken erklärt, etwa dem Ausländerzentralregister.

Problematisch ist bereits der Begriff des „Migrationshintergrundes“ selbst, der erst vor knapp zwei Jahrzehnten überhaupt in den Diskurs eingebracht worden ist und in anderen Ländern unbekannt ist. Eingeführt hat ihn nach Erkenntnissen des Sprachwissenschaftlers Helmut Berschin die Essener Pädagogik-Professorin Ursula Boos-Nünning, die im Jahr 2000 erstmals in einer Studie von „Kindern mit Migrationshintergrund“ sprach, um Kinder von Gastarbeitern, Asylanten und Aussiedlern auf einen griffigen Nenner zu bringen.

Das Schlagwort machte rasch Karriere; bereits 2005 wurde das Konzept des „Migrationshintergrundes“ in die Bevölkerungsstatistik eingeführt. Davor wurden nur „Deutsche“ und „Ausländer“ nach dem Kriterium der Staatsbürgerschaft gezählt. Da der Begriff vom französischen Manager eines südwestdeutschen Konzerns bis zum paschtunischen Analphabeten, vom japanischen Akademikerkind bis zum anatolischen Bauernsohn eine enorme Bandbreite unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen abdeckt, bedarf seine Verwendung eingehender Definition und Erläuterung.

In den anderthalb Jahrzehnten, in denen ein „Migrationshintergrund“ in der amtlichen deutschen Bevölkerungsstatistik erfaßt wird, hat sich der Definitionsrahmen mehrfach geändert. Aktuell umschließt er Personen, die entweder als selbst zugewanderte oder hier geborene ausländische Staatsbürger („Ausländer“), als zugewanderte oder nicht zugewanderte Eingebürgerte, als Aussiedler deutscher Abstammung aus Rußland, den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den ost- und südosteuropäischen Siedlungsgebieten, als durch Adoption zur deutschen Staatsbürgerschaft Gekommene oder als mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der zuvor genannten Gruppen in Deutschland leben. 

Während der Kreis der durch einen deutschen Staatsbürger Adoptierten im Jahr 2018 65.000 Personen ausmachte, ist durch die seit 2017 zusätzlich erfolgte Erfassung des Migrationsstatus von nicht mehr im Haushalt lebenden Eltern der Befragten der Kreis der Personen „mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn“ nochmals um mehr als eine Million ausgeweitet worden. 

Die Zahl der Aussiedler wurde dagegen nach unten korrigiert, von 3,1 Millionen im Jahr 2016 auf aktuell 2,6 Millionen; ein Teil der aus der Statistik gefallenen Aussiedler verbirgt sich hinter den rund 300.000 „Deutschen mit Migrationshintergrund“, die „mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren“ sind. Unvollständig abgebildet ist ferner die Dimension der Asyl-Migration; da der Mikrozensus nur Personen in Privathaushalten erfaßt, sind Asyl-Zuwanderer in Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften nicht enthalten. Sie werden erst seit 2017 nicht mehr erfaßt. Der abermalige Anstieg des Migrantenanteils dürfte also noch deutlicher ausfallen als von den Zahlen erfaßt.

Das Konzept des „Migrationshintergrunds“ krankt also daran, daß unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen miteinander vermengt werden, die man anschließend wieder auseinanderdividieren muß, um verwertbare Aussagen treffen zu können. 

Auf den ersten Blick aussagekräftig ist die aus der Statistik ablesbare Entwicklung der herkunftsdeutschen Bevölkerung, also der „Deutschen ohne Migrationshintergrund“. Sie kennt seit Einführung des Konzepts – und auch schon in einem längeren Zeitraum davor – nur eine Richtung: Nach unten. 2005 zählte die Statistik noch 66,4 Millionen Herkunftsdeutsche, im Berichtsjahr 2018 nur mehr 60,8 Millionen. 

Umgekehrt stieg der Anteil der Einwohner „mit Migrationshintergrund“ von 14 Prozent im Jahr 2005 auf den aktuellen Wert von 25,5 Prozent. Seit 2011 hat sich diese Entwicklung erheblich beschleunigt. 52 Prozent der Personen mit Migrationshintergrund sind deutsche Staatsangehörige; von diesen wiederum sind deutlich mehr als die Hälfte bereits in Deutschland geboren.

„Selbst wenn wir jetzt eine Nullzuwanderung hätten, würde der Migrationsanteil zunehmen“, erklärt Daniel Thym vom „Sachverständigenrat Migration“ gegenüber der Welt. Das ergibt sich schon aus dem höheren Migrantenanteil in kommenden Elterngenerationen. Während bei den 45- bis 55jährigen und den 55- bis 65jährigen der Anteil der Herkunftsdeutschen sich noch um 80 Prozent bewegt – die demnächst verrenteten geburtenstarken Jahrgänge lassen grüßen –, bei den über 75jährigen sogar über 90 Prozent liegt, machen die Deutschen ohne Migrationshintergrund bei den jungen Erwachsenen zwischen 15 und 45 Jahren schon nur noch zwei Drittel aus. Bei den Kindern und Jugendlichen haben bereits 40 Prozent einen Migrationshintergrund; je jünger die Altersgruppe, desto höher der Anteil.

Die jüngeren Alterskohorten sind auch in absoluten Zahlen erheblich kleiner. Die 50- bis unter 55jährigen Herkunftsdeutschen zählen noch 5,6 Millionen Köpfe, die 20- bis unter 25jährigen nur mehr 3,4 Millionen, und die unter fünfjährigen Herkunftsdeutschen sind nur noch 2,2 Millionen, gegenüber 1,5 Millionen Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund – 41 Prozent aller 3,68 Millionen Kinder unter fünf Jahren, Tendenz steigend.

Setzt sich diese Entwicklung fort, ist absehbar, daß die herkunftsdeutsche Bevölkerung eines Tages im gesamten Land in die relative Minderheit geraten kann. In einigen Großstädten wie Frankfurt am Main ist dies ja bereits eingetreten, ebenso in zahlreichen Stadtbezirken vor allem westdeutscher Großstädte. 

Der Mikrozensus betrachtet die unterschiedliche Verteilung lediglich bis hinab zur Ebene der Länder und Regierungsbezirke. Selbst in diesem groben Raster werden regionale Ballungen erkennbar: In Bremen etwa hat bereits insgesamt jeder dritte Einwohner einen Migrationshintergrund, in den mitteldeutschen Ländern dagegen sind außereuropäische Migranten unterdurchschnittlich vertreten.

240.000 Doppelstaatler mit türkischen Wurzeln  

So liegt der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen bei unter elf Prozent. In den westlichen Bundesländern hingegen liegt er zwischen 20 und 30 Prozent. Am höchsten ist der Anteil in Hamburg, Bremen, Berlin sowie in größeren Zentren Baden-Württembergs, Hessens und Nordrhein-Westfalens. Hier beträgt er 31 Prozent und mehr.

Doch während in den westlichen Bundesländern nicht wenige Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, hat eine Mehrheit der Einwohner mit Migrationshintergrund in den neuen Bundesländern einen ausländischen Paß.

Von den 20,8 Millionen Einwohnern mit Migrationshintergrund sind 13,5 Millionen nicht in Deutschland geboren, sondern im Laufe ihres Lebens zugewandert. Etwa die Hälfte – 48 Prozent – ist aus familiären Gründen eingereist. Das betrifft vor allem Migranten aus Europa, wobei der Mikrozensus die Türkei, die einen beträchtlichen Anteil stellt, unter „sonstiges Europa“ listet. Ein Fünftel der Zugewanderten ist zur Arbeitsaufnahme oder Arbeitssuche gekommen, bereits 15 Prozent nennen Flucht und Asyl als Einreisegrund. Das betrifft zur Hälfte allein Zuwanderer aus dem Nahen Osten. Lediglich fünf Prozent der Zugezogenen halten sich zu Studium, Aus- oder Weiterbildung in Deutschland auf. Letztere Gruppe stammt zu 40 Prozent aus Europa und zu 38 Prozent aus Asien.

Bemerkenswert ist die hohe Zahl der Doppelstaatler: 1,8 Millionen. 817.000 von ihnen sind EU-Bürger, etwa zur Hälfte aus den vor und nach 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten. 266.000 stammen aus Rußland bzw. Kasachstan – das der Mikrozensus wiederum unter „Asien“ listet – und dürften zu einem großen Teil Aussiedler deutscher Abstammung sein. 

240.000 Doppelstaatler sind zugleich türkische Staatsbürger. Das Gros, über zweihunderttausend, wurde in Deutschland geboren; die meisten wurden in den 1990er Jahren und bis 2007 eingebürgert. Mit 146.000 auffallend hoch ist auch die Zahl der Doppelstaatler aus dem Nahen und Mittleren Osten.

Obwohl das Kriterium des Migrationshintergrunds unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen über einen Kamm schert, sind auch bei der Integration in den Arbeitsmarkt signifikante Abweichungen erkennbar. So sind die Herkunftsdeutschen bei den Berufstätigen leicht (76,3 Prozent), bei den Rentnern, Pensionären und von eigenem Vermögen Lebenden deutlich überrepräsentiert.

 Dagegen haben 34,7 Prozent der Bezieher von Arbeitslosengeld I und sogar 53,9 Prozent der ALG-II-Bezieher einen Migrationshintergrund. Zusammengenommen sind das mehr als die Hälfte aller Arbeitslosengeldbezieher. Auch bei den Beziehern „sonstiger staatlicher Unterstützung“ hat fast jeder zweite, 47 Prozent, einen Migrationshintergrund. Selbst durch das umgedrehte Fernglas des „Migrationshintergrunds“ wird der darin verborgene Sprengstoff deutlich erkennbar.