© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Dorn im Auge
Christian Dorn

Animistische Anamnese: Die über Nacht ausgewilderten E-Roller wirken wie Hybridwesen – wenn ich die den Gehweg blockierenden Gefährte ruppig zur Seite wuchte, fiepen diese augenblicklich vor Angst, als seien sie extraterrestische Körper, darauf programmiert, Alarm zu schlagen, sobald sich ihrer Invasion jemand in den Weg stellt. Entsprechend aggressiv sind die Begegnungen. Als ein solches Gefährt vor dem türkischen Restaurant „Osmans Töchter“ mir mitten auf dem Gehweg seinen wie ein Geweih gesenkten Lenker entgegenreckt, nehme ich die Auseinandersetzung fast sportlich: Nach einem Bodycheck fliegt das Rollertier in die Tischreihen. Zivilisiert dagegen die Mäuse im transparenten Plastikkasten an der Hand des Kunden im Zeitungsladen um die Ecke, der den Proviant für seine giftigen Reptilien und Vogelspinnen transportiert. Angesprochen auf seine Tiere zu Hause, antwortet der Kunde gedehnt: „Alles, was schön tötet.“


Ganz anders sind diese Begegnungen in der Pop-Kultur. Bei einem Festival in der Kulturbrauerei, wo die deutschsprachigen Acts „postmigrantisch“ sind (Berliner Zeitung), präsentiert der Musiker Nikko Weidemann erstmals sein autobiographisches Programm „Ich seh’ Monster“. Bekannt für die Tanzmusik der Fernsehserie „Babylon Berlin“ mit seinem Moka Efti Orchestra (nächstes Konzert im Metropol-Theater Berlin: 28. September), erzählt der klassisch ausgebildete Pianist, der auch virtuos Gitarre spielt, hier aus seinem unglaublichen Leben. So arbeitete er bereits früh mit Weltstars wie Nick Cave (der fasziniert am Klavier in Weidemanns schwarzem Schlafzimmer saß, aber noch gar nicht spielen konnte), Rufus Wainwright, Yoko Ono oder deren Sohn Sean Lennon zusammen wie den Einstürzenden Neubauten (die, wie die Jungfrau zum Kinde, im Tonstudio händeringend auf Weidemanns musikalische Hilfe angewiesen waren), Nena oder Rio Reiser. Noch Teenager, stand er gar mit Frank Zappa auf der Bühne, der ihn sofort zum Vorspiel für die nächste Tournee einlud. Jahrzehnte später in New York erlebte Weidemann tatsächlich einstürzende Neubauten, als vermeintlich die Handwerker morgens einen heftigen Stoß verursachten, und dann noch einen –  bis er vom Badfenster aus die rauchenden WTC-Türme sah. Von unfreiwiliger Dialektik scheint auch die Erinnerung an die erste in Berlin (im „Zensor“) aufgeschwatzte Platte „Eyeless in Gaza“. Die habe er bis heute nicht gehört – dafür protestieren draußen parallel BDS-Aktivisten, die den Boykott Israels fordern. Ihr Ruf: „Follow Hamas!“