© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

Ein Doswidanja mit großer Erleichterung
Vor 25 Jahren zogen gemäß Zwei-plus-Vier-Vertrag die letzten russischen Besatzungstruppen aus Deutschland ab
Thomas Schäfer

Am 1. September 1994 startete Generaloberst Matwej Burlakow, seines Zeichens Oberkommandierender der ehemaligen Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), die inzwischen bloß noch schlicht „Westgruppe der Truppen“ (WGT) hieß, mit einer Tupolew 154 vom brandenburgischen Militärflughafen Sperenberg in Richtung Moskau. Kurz zuvor hatten seine Begleiter die russische Flagge auf dem bisherigen WGT-Stützpunkt eingeholt. Diese beiden Ereignisse markierten das formelle Ende der ein halbes Jahrhundert währenden Präsenz russischer beziehungsweise sowjetischer Truppenkontingente auf deutschem Boden.

Damit die WGT das Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik (DDR) räumte, waren zähe Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau nötig gewesen, in denen vor allem finanzielle Aspekte eine Rolle gespielt hatten. Der Durchbruch gelang dabei erst, als die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) zusagte, den im Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR und den vier Siegermächten vereinbarten Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen mit insgesamt 15 Milliarden D-Mark zu bezuschussen. Für den Fall einer Weigerung hatte der Kreml-Chef Michail Gorbatschow in zwei Telefonaten mit Kohl Anfang September 1990 unverblümt damit gedroht, daß die UdSSR dann den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der dem vereinigten Deutschland außerdem auch die volle Souveränität garantieren sollte und dessen Unterzeichnung für den 12. September 1990 anstand, komplett neu aushandeln werde.

Größte Truppenverlegung außerhalb von Kriegszeiten

Der Abzug der WGT war die größte Verlegung von Streitkräften in Friedenszeiten, welche natürlich auch gigantische Kosten verursachte, die Moskau keinesfalls allein schultern wollte und konnte. Letztlich mußten innerhalb von knapp vier Jahren sechs Armeen mit 337.800 Militärangehörigen zuzüglich der Offiziersfamilien (das waren nochmals mehr als 200.000 Personen) nach Rußland oder in andere GUS-Staaten überführt werden. 

Dazu gehörte unter anderem auch der Rücktransport von 4.200 Kampfpanzern, über 200.000 sonstigen Fahrzeugen, 3.600 Geschützen, 180 Raketensystemen sowie 1.370 Flugzeugen und Hubschraubern mit einem Gesamtgewicht von 2,7 Millionen Tonnen auf dem See-, Luft- und Landweg. Das von Deutschland mehr oder weniger erpreßte Geld floß allerdings vorrangig in den Bau von 46.000 Offizierswohnungen in Rußland, der Ukraine und Weißrußland sowie auch die Umschulung von 10.000 Rotarmisten – sofern es nicht in dunklen Kanälen versickerte, was in den Wirren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ziemlich häufig vorkam. 

Der Abschluß der Truppenverlegung wurde mit mehreren großen Zeremonien gefeiert, darunter einer in der Wuhlheide in Berlin-Karlshorst abgehaltenen Parade der 6. motorisierten Garde-Schützenbrigade am 25. Juni 1994 und dem offiziellen Festakt im Beisein von Bundeskanzler Kohl und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin im Berliner Schauspielhaus am 31. August 1994. Trotzdem fühlten sich viele GSSD- bzw. WGT-Veteranen gedemütigt und ungerecht behandelt, weil man ihnen keinen ähnlich bombastischen Abschied bereitet hatte wie den gleichfalls abziehenden Kontingenten der Westalliierten. Aber die Zurückhaltung der Deutschen kann wohl kaum verwundern, wenn man die Geschichte der GSSD Revue passieren läßt.

Sie begann unmittelbar nach Kriegsende am 9. Juni 1945 mit der Bildung der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland (GSBT), die aus zunächst neun Armeen der Ersten und Zweiten Weißrussischen Front bzw. der Ersten Ukrainischen Front sowie der 16. Luftarmee mit insgesamt etwa einer Million Mann bestand. Am 26. März 1954 erfolgte deren Umbenennung in Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, nachdem Moskau der DDR am Vortag die volle Souveränität versprochen hatte, die der „Erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ indes nie erhielt. 

Die Stationierung der nunmehrigen GSSD, für welche Ost-Berlin pro Jahr ein bis zwei Milliarden Mark aufbringen mußte, erfolgte ab dem 12. März 1957 auf der Grundlage des Abkommens über den zeitweiligen Aufenthalt sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR. Die Aufgabe der GSSD sollte angeblich darin bestehen, den „Frieden zu sichern“ und die Deutsche Demokratische Republik vor den „aggressionslüsternen Imperialisten“ im Westen zu schützen. Tatsächlich jedoch war sie eher offensiv ausgerichtet und diente zudem als Instrument zur Sicherung der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR, einem willfährigen Vasallen Moskaus. 

Das zeigte sich nicht zuletzt während des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, als die sowjetische Militäradministration den Ausnahmezustand verhängte und 16 GSSD-Divisionen in Marsch setzte, um die Arbeiter-Proteste in den Städten mit T-34-Panzern niederzuwalzen. Das trug den sowjetischen Streitkräften in Deutschland ebenso die Abneigung vieler Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge ein wie die Absicherung des Mauerbaus am 13. August 1961 und die Beteiligung an der blutigen Beendigung des „Prager Frühlings“ im August 1968. Teilweise ging der Haß der DDR-Bürger sogar so weit, daß sie Anschläge gegen Angehörige der GSSD oder deren Militärgerät erwogen – letztlich blieb es aber bei der Schändung von sowjetischen Ehrenmalen und Soldatenfriedhöfen sowie zahlreichen „Russen raus“-Graffitis im öffentlichen Raum.

Kriminalität und Willkür förderten Mißtrauen

Daß die Sowjetsoldaten stets als ungeliebte Besatzer wahrgenommen wurden, hatte jedoch auch noch andere Gründe. Einer davon war ihre Omnipräsenz. Wie mittlerweile feststeht, nahm die GSSD insgesamt 1.116 Liegenschaften in der DDR in Besitz, darunter 777 Kasernenanlagen an 276 Standorten, 47 Flugplätze und 116 Truppenübungsplätze. Deren Gesamtfläche entsprach in etwa jener des Saarlandes! Dabei lagerte sie in den Objekten auch Kernwaffen, ohne dazu das Einverständnis der DDR-Führung einzuholen. Freifall-Atombomben zum Abwurf aus Flugzeugen und nukleare Sprengköpfe für die Kurz- und Mittelstreckenraketen der Typen Luna-M, SS-3, SS-12 und SS-21 wurden ab 1958 bei Nacht und Nebel in diverse getarnte Bunker verbracht; neun davon lagen im heutigen Brandenburg, je drei in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, zwei in Sachsen-Anhalt und einer in Thüringen. Von der Stationierung der „Spezialladungen“ erfuhren die Menschen in Mitteldeutschland nur gerüchtehalber, wohingegen die zahlreichen Unfälle und Katastrophen, für welche die GSSD verantwortlich zeichnete, ungleich schlechter zu verheimlichen waren.

Zwei besonders schwere Unglücke ereigneten sich am 14. August 1977 und 19. Januar 1988. Im ersteren Falle starteten in einem Munitionslager der 2. Garde-Panzerarmee bei Dannenwalde durch Blitzschlag um die tausend im Freien gelagerte Katjuscha-Raketen. Diese explodierten zwar infolge der fehlenden Zünder nicht, richteten aber trotzdem in 23 umliegenden Dörfern große Schäden an. Außerdem starben bei der Brandbekämpfung mehrere Dutzend Sowjetsoldaten. Das Vorkommnis war insofern extrem gefährlich, als in dem gleichen Objekt höchstwahrscheinlich auch Kernsprengköpfe für die SS-21 lagerten. 

Im zweiteren Falle geriet ein sowjetischer T-64-Fahrschulpanzer bei Forst Zinna zwischen Jüterbog und Luckenwalde ungewollt auf die Gleise der Bahnstrecke Berlin-Halle. Infolgedessen kam es zur Kollision mit dem planmäßigen D-Zug 716, in dem 450 Reisende saßen. Die Bilanz dieses Unglücks: sechs Tote, 33 Verletzte und ein Sachschaden in Höhe von 13,5 Millionen Mark, der trotz expliziter Rechnungsstellung durch die Reichsbahn nie bezahlt wurde. Und das war auch keineswegs ein Einzelfall. Bereits im Jahr zuvor hatte es 18 ähnliche, aber glücklicherweise nicht so folgenschwere Zusammenstöße zwischen GSSD-Fahrzeugen und Zügen gegeben.

Außerdem war die Kriminalität vonBesatzungssoldaten ein Problem. Diese verübten eine Vielzahl von Straftaten: Im Zeitraum von 1976 bis 1989 registrierten die DDR-Behörden 27.500 schwere Delikte, darunter auch Mord, Totschlag und Massenvergewaltigungen. Fünf Deutsche starben dabei alleine während einiger Raubüberfälle zwischen dem 22. September und 2. Dezember 1988, wie die Militärstaatsanwaltschaft des SED-Staates akribisch registrierte. Manche der Täter verwendeten sogar Kriegswaffen. Vor der DDR-Justiz mußte sich indes kein einziger Angehöriger der GSSD verantworten, obwohl das Rechtshilfeabkommen zwischen Ost-Berlin und Moskau vom 2. August 1957 eigentlich genau dies vorsah.

Sehr teure Sanierung der russischen Liegenschaften

Mitverantwortlich für die hohe Kriminalität der Sowjetsoldaten waren die Zustände innerhalb der GSSD. Nicht nur, daß die niederen Ränge überaus schlecht versorgt wurden, was zu unzähligen Eigentumsdelikten führte. Vielmehr mußten sie auch grausame Schikanen durch Dienstältere und Vorgesetzte (Dedowschtschina – „Herrschaft der Großväter“) erdulden. Die Folge waren Hunderte Tote pro Jahr unter den GSSD-Angehörigen: infolge von Gewaltexzessen, Suiziden und „Unfällen“. Wegen der unhaltbaren Zustände desertierten viele Rotarmisten und begingen dann auf der Flucht schwere Gewalttaten. Da ihnen im Falle einer Ergreifung die Todesstrafe drohte, nutzten sie restlos jedes Mittel, um sich irgendwie nach Westen durchzuschlagen. Letztendlich schafften es aber wohl nur um die 600 Sowjetsoldaten, aus der DDR in die Bundesrepublik zu gelangen – und auch dort waren sie nicht sicher, wie der Fall des fahnenflüchtigen Fähnrichs Oleg Rjabow beweist, den der KGB 1991 bei Nürnberg kidnappte und zurück in die Heimat verschleppte.

Auf jeden Fall machte sich unter den ehemaligen DDR-Bürgern große Erleichterung breit, als die ungeliebten „Freunde“ endlich verschwanden. Allerdings hielt die Begeisterung oft nur so lange an, bis die Menschen die nun leerstehenden Liegenschaften der GSSD betraten und die Hinterlassenschaften der Besatzer sahen: völlig marode Gebäude, achtlos weggeworfene Munition und defektes Kriegsgerät sowie Müll, Müll und nochmals Müll – meist mit diversen hochgefährlichen Schadstoffen versetzt. Die Bundesregierung erwartete deshalb 1994 Sanierungskosten in Höhe von etwa 25 Milliarden D-Mark. Wie hoch die Kosten für den deutschen Steuerzahler am Ende tatsächlich waren, um die Entschärfung der ökologischen Zeitbomben auf den GSSD-Arealen vorzunehmen, ist bis heute nicht konkret beziffert.