© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/19 / 30. August 2019

„Kolonialistische Mentalität“
Die Waldbrände in Südamerika haben verheerende ökologische Auswirkungen und vor allem ökonomische Ursachen / „Ungenutztes wirtschaftliches Potential“?
Christian Schreiber

Die Twitter-Rangliste der amtierender Staatschefs wird mit 63,5 Millionen Followern von Donald Trump angeführt. Emmanuel Macron (4,12 Millionen Follower) hat diesbezüglich Nachholbedarf, versucht aber gleichzuziehen: „Unser Haus brennt“, twitterte der französischer Amtkollege, „der Amazonas-Regenwald – die Lunge, die 20 Prozent des Sauerstoffs unseres Planeten produziert – steht in Flammen. Es ist eine internationale Krise“. Deswegen gehöre sie auf die Tagesordung des G7-Gipfels im baskischen Biarritz.

Die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt

Ob Macron das vorher mit den anderen sechs Gipfelteilnehmern abgesprochen hat, bleibt Spekulation. Bei Jair Bolsonaro (4,12 Millionen Twitter-Freunde), kam dies nicht gut an: Die Amazonas-Probleme auf dem G7-Gipfel zu diskutieren, ohne die Länder der Region zu beteiligen, lasse „auf eine kolonialistische Denkweise schließen“, meinte der Präsident von Brasilien. Zudem habe Macron für seinen Tweet ein uraltes Brandbild verwendet. Die Biarritz-Visite des iranischen Außenministers Mohammad Javad Zarif bei Nichteinladung eines brasilianischen Vertreters dürfte Bolsonaro zusätzlich bestätigen.

Dabei ist Brasilien längst Mitglied der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) und liegt mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1,9 Billionen Dollar zwischen den G7-Teilnehmern Italien (2,1 Billionen) und Kanada (1,7 Billionen). Doch der Aufstieg der portugiesischen Ex-Kolonie zur neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt hat leider auch etwas mit Waldvernichtung zu tun. Denn etwa ein Viertel des brasilianischen BIP und sogar 45 Prozent der Exporte werden im Agrarbereich erwirtschaftet. Und der ist auf eine wachsende landwirtschaftliche Nutzfläche angewiesen – und Brandrodung ist in Südamerika ein Mittel zur Anbauausweitung.

Das fünftgrößte Land der Erde ist weltgrößter Exporteur von Rindfleisch und der drittgrößte Schweineproduzent der Welt. Auch beim Soja- und Maisanbau werden Rekorde erzielt. Zuckerrohr wird nicht nur als Süßgrundstoff, sondern auch wegen der Äthanolproduktion angebaut: Brasilien ist nach den USA der weltweit zweitgrößte Hersteller von Biokraftstoff. Die meisten Autos in dem 210-Millionen-Einwohnerland haben „Flex Fuel“-Motoren, die bis zu 85 Prozent Äthanol im Benzin vertragen – oder im Greta-Sprech: Sie fahren CO2-arm, denn beim Zuckerrohranbau wird CO2 ja aus der Luft aufgenommen. Auch bei der Palmölgewinnung – ein Grundstoff für Biodiesel und die Chemieindustrie auch in Europa – will das aufstrebende Schwellenland künftig mitmischen.

Dennoch hat der „Tropen-Trump“ (Handelsblatt) inzwischen ein Dekret erlassen, das den Militäreinsatz zur Verhinderung von „Umweltdelikten“ und zum Kampf gegen die Flammen erlaubt: „Wir sind eine Regierung der Null-Toleranz-Politik gegenüber der Kriminalität, und im Bereich der Umwelt ist das nicht anders“, sagte Bolsonaro in einer TV-Rede. „Wir werden entschlossen handeln, um die Feuer unter Kontrolle zu bringen.“

Denn das Ausmaß der Katastrophe ist riesig – aber nicht auf Brasilien beschränkt: Auch in Bolivien, Kolumbien, Paraguay, Peru, Nordargentinien, Venezuela und der britischen Ex-Kolonie Guyana brennen Wälder, abgeholzte Gebiete und Savannen. Es in der Tat eine „internationale Krise“, aber keine alleinige Folge der Wahl des „rechtsextremen“ Bolsonaro (ARD-Tagesschau 2018), der klar auf seiten des boomenden Agrobusiness steht. In Bolivien kämpft der seit 2006 regierende Präsident Evo Morales um seine Wiederwahl am 27. Oktober – und der Indio-Sozialist erlaubte mit dem Decreto Supremo 3973 die kontrollierte Brandrodung (quema controlada). Das südamerikanische Armenhaus (BIP pro Kopf: 3.549 pro Kopf) werde damit künftig „wirtschaftlich wachsen, vor allem in der Landwirtschaft“.

Der ökologische weltvolle Regenwald in der Region speichert geschätzte 80 bis 120 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. „Würde nichts zu seiner Rettung unternommen und der Patient Amazonas stürbe weg, hätte das für unser Klima verheerende Folgen: Die Zerstörung des Waldes hätte einen CO2-Ausstoß zur Folge, der etwa dem 400fachen der jährlichen CO2-Emissionen Deutschlands entspräche. Ein Absterben des Amazonas wäre in vielerlei Hinsicht fatal“, warnt die Umweltorganisation Greenpeace. In den vergangen Jahrzehnten wurde etwa ein Fünftel des Regenwaldes komplett vernichtet – meist illegal durch Brandrodungen. Dies entspricht einer Fläche, die doppelt so groß ist wie Deutschland.

„Einige Baumarten brauchen das Feuer“

Hinzu kommt: „Kurzfristig gelangen sehr große Mengen Kohlendioxid in die Atmosphäre. Der Amazonas ist einer der größten Kohlenstoffsenken der Welt“, bestätigt Rico Fischer vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung dem Spiegel. Gesunde Regenwald-Ökosysteme bräuchten hundert Jahre, um sich nach einem Brand zu regenerieren. Im Amazonasgebiet könnte es länger dauern – wenn es überhaupt dazu kommt: „Ich fürchte, viele der entstandenen Freiflächen könnten künftig landwirtschaftlich genutzt werden und noch größere Lücken im Regenwald reißen.“

Allerdings seien die oft auch durch Blitze ausgelösten Brände auch natürlich und nützlich: „Einige Baumarten brauchen Feuer zur Vermehrung, weil nur durch die Hitze die Kapseln um die Samen platzen. Für langsam wachsende Pflanzen kann Feuer ein Segen sein: Sind die Bäume um sie herum erst in die Höhe geschossen, bleibt ihnen kaum noch Licht. Kleinere Brände sorgen für Freiflächen und tragen so zur Verjüngung des Waldes bei“, so der Waldexperte Fischer.

Die brasilianischen Behörden wollen ermitteln, warum der von den Bauern öffentlich angekündigte „Tag des Feuers“ nicht verhindert wurde. Farmer im Südwesten hatten in einer koordinierten Aktion große Flächen in Brand gesteckt, um Platz für neue Weideflächen zu schaffen. Politiker aus den EU-Ländern werfen Bolsonaro nun vor, er habe zu der Rodung regelrecht ermuntert, weil der Präsident in der Amazonasregion ein „ungenutztes wirtschaftliches Potential“ sieht.

Auch Bolsonaros Retourkutsche, Macron wolle aus der Brandkrise „persönlichen politischen Profit“ schlagen, ist nicht aus der Luft gegriffen: Macrons Drohung, das Freihandelsabkommen der EU mit den vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay zu blockieren, sollte sich Bolsonaro nicht zu Umweltstandards und zur Pariser Klimavereinbarung bekennen, hat auch ökonomische Motive: Die zollfreie Einfuhr billiger Agrarprodukte könnte zu Lasten der französischen Bauern gehen.

Die symbolische 20-Millionen-Dollar-Hilfe der G7-Staaten wurde von Brasilien empört abgelehnt. Und die Empfehlung aus Brasília, damit stattdessen in Europa Bäume zu pflanzen, hätte etwas für sich: Der alte Kontinent war vor dreitausend Jahren überwiegend bewaldet – sprich: ebenfalls „eine der größten Kohlenstoffsenken der Welt“. Seither hat sich die europäische Waldfläche auf ein Drittel oder ein Viertel reduziert – durch Rodung zur Holz- und Holzkohlegewinnung sowie für Ackerflächen, Weiden, Straßen und den Siedlungsbau.

Allerdings nimmt die Waldfläche wieder zu, was eine Studie der Universität Helsinki nachweist. Das hat ökonomische wie demographische Gründe: Von 1990 bis 2015 wuchs der Bestand an Wäldern in Ländern mit hohem Einkommen jährlich um 1,31 Prozent. In ärmeren Ländern ging die Bewaldung um 0,72 Prozent zurück. Allerdings seien die neuen Wälder „biologisch weniger vielfältig, insbesondere dort, wo sie aus gepflanzten Monokulturen bestehen“.

Hintergrundinformationen liefert die Vierteljahreszeitschrift Regenwald Report: regenwald.org

Global Forest Watch der Universität Maryland: www.globalforestwatch.org

Pekka Kauppi, Vilma Sandström: „Forest resources of nations in relation to human well-being“: doi.org