© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Verzockt, aber nicht verloren
Matteo Salvini: Warum sein herbeigeführtes Koalitions-Aus nicht das Ende bedeutet
Marco F. Gallina

Die Philosophin Chantal Delsol mahnte jüngst an, daß die heutigen Europäer kein Dilemma mehr kennen würden. Seit der Aufklärung verflachten menschliche Konflikte zu reinen Dramen. Das heißt: Der Held wird mit einer Situation konfrontiert, für die es eine vernünftige Lösung gibt. Komplexe Probleme wie die Migrationsfrage kennen angeblich „eine richtige Antwort“, obwohl in Wirklichkeit – wie beim antiken Dilemma um Antigone oder Ödipus – nur Optionen mit sowohl positiven wie negativen Konsequenzen existieren.

Der Fall Matteo Salvini ist ein solches Dilemma. Ähnlich wie bei der Migrationsfrage, die Delsol als komplexes Ringen von staatlicher Dauerhaftigkeit und Moralismus darstellt, befand sich der italienische Innenminister in einer Situation, in der es keinen Königsweg gab. Der – nicht unrichtige – Vorwurf, Salvini habe sich „verzockt“, unterstellt, es hätte in diesem Drama eine Lösung gegeben wie bei Lessings „Nathan“. Daß Salvinis Entscheidung nicht bloßer Hybris entsprang, zeigt die Gegenfrage, was Salvini denn sonst hätte tun sollen: die Koalition fortsetzen? Die Koalition später platzen lassen? Und wenn ja: zu welchem Zeitpunkt? Und warum hätte diese Gelegenheit besser sein sollen?

Aus Salvinis Perspektive bot der August die optimale Gelegenheit. Seine Lega erreichte in den Umfragen mit 38 Prozent ihren Zenit. Die nationalkonservativen Fratelli d’Italia (FdI) von Giorgia Meloni lagen mit 7 Prozent ebenfalls auf einem Rekordhoch. Der Lega-Chef spekulierte darauf, im Wahlkampf 40 Prozent zu erreichen – genug, um mit den FdI eine rechte Koalition zu schließen. Salvini hätte damit auf Silvio Berlusconi als Steigbügelhalter verzichten können und den alten „Cavaliere“ im rechten Lager kaltgestellt. 

Dieser Zug hatte nicht nur machtstrategische Aspekte. Berlusconis Forza Italia (FI) ist auf europäischer Ebene Teil der EVP. Sie ist europhil und hat Ursula von der Leyen mitgewählt. Es bestehen direkte Kontakte zur CDU – und damit Angela Merkel. Mehrmals hat der Medienmogul vorgeschlagen, eine „Große Koalition“ nach deutschem Vorbild zu schließen. Salvini war demnach klar: Seine Lega mußte so stark sein, daß sie ohne Berlusconi regieren konnte. Das deutete sich Anfang August an.

Zugleich war der Koalitionspartner von der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) in einer prekären Lage. Nach mehreren verlorenen Wahlen auf Regional- und Kommunalebene sowie dem enttäuschenden Abschneiden bei der EU-Wahl, sah sich Parteiführer Luigi Di Maio unter Druck. Die Sterne drohten in der Selbstzerfleischung zu enden. Zusätzlich überholte der sozialdemokratische Partito Democratico (PD) den gelben Erzrivalen in den Umfragen. Gegen den richtete sich die Rhetorik der Basislinken am meisten. Nachdem im linksregierten Bibbiano der Skandal um entführte und mißbrauchte Kinder explodierte, distanzierte sich Di Maio demonstrativ von den Sozialdemokraten: mit einer solchen Partei wollte er nichts zu tun haben. Für Salvini bedeutete das, der geschwächte M5S würde nicht mit der „Partei von Bibbiano“ liebäugeln.

Es kam bekanntlich anders. Hinter Salvinis Rücken mauschelten Sozialdemokraten und Basislinke, nachdem Di Maio sich verraten sah. Premierminister Giuseppe Conte kam dem Mißtrauensantrag mit einer großen Anti-Salvini-Rede und seinem Rücktritt zuvor. Die kleinen Parteien unterstützten plötzlich Conte, um den Sieg einer übermächtigen Lega bei Neuwahlen zu verhindern. Der Innenminister wurde nun selbst Opfer seiner herbeigeführten Regierungskrise. Hätte Salvini nicht den Koalitionsstecker ziehen dürfen? Kritiker werfen ihm vor, mit dem Innenministerium zugleich sein politisches Vermächtnis verspielt zu haben: Sicherheitsdekret und geschlossene Häfen stehen auf der Kippe.

Allerdings hätte ein späterer Austritt aus der Regierung Salvini eine langfristige Änderung italienischer Politik versperrt. An der Basis im Norden regte sich in den vergangenen Monaten Widerstand. Die wirtschaftsliberale Lega konnte sich nicht gegen den etatistischen M5S durchsetzen. 

Das versprochene Projekt einer „Flat-Tax“ blieb unerfüllt, stattdessen kam das Grundeinkommen für „Faulenzer“, wie es in Lega-Verbänden hieß. Der Norden, der in einem Referendum mehr Autonomiekompetenzen gefordert hatte, wurde enttäuscht. In den beiden Parlamentskammern hat der M5S doppelt so viele Sitze wie die Lega. Ohne Mehrheit konnte Salvini nicht auf einen „echten“ Politikwechsel spekulieren. Als „Wahlbetrüger“ hätte Salvini sein Renommee eingebüßt, das er in der Migrationsfrage gewonnen hätte. Der Lega-Chef stand unter Zeitdruck. Er mußte handeln.

Kritikwürdig bleibt, wie Salvini das Regierungsende gestaltet hat: zu offensichtlich, zu überstürzt, ohne vorherige Kommunikation und ohne echte Analyse dessen, was sich im PD vollzog: nämlich die Rückkehr Matteo Renzis, der seinen Widerstand gegen die Sterne-Bewegung aufgab und sogar die Spaltung der PD-Fraktion in Kauf nahm, um an die Macht zurückzukehren. Der Koalitionsbruch als solcher ist Salvini dagegen nicht anzukreiden. Hätte er es nicht getan, so hätte die Lega ihre eigene Politik verraten müssen. 

Salvini führt jetzt die größte Oppositionspartei Italiens an. Sollte die neue Regierung tatsächlich seine Reformen zurücknehmen, wird das die Italiener darin bestätigen, daß nur Salvini das Einwanderungs- und Asylproblem lösen kann. Dann kehrte Salvini nach der nächsten Wahl nicht als Innenminister zurück – sondern als Premier.