© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

„Riesige potentielle Verluste für Deutschland“
Gefahren eines No-Deal-Brexit: Ein Abkommen mit den USA kann die Verluste aus dem Handel mit der EU nicht ausgleichen
Thomas Kirchner

Spätestens nach Halloween vergeht den Briten das Lachen: Lebensmittel, Medikamente, Benzin und Diesel werden knapp, EU-Ausländern droht die Ausweisung. In den Häfen, am Eurotunnel und an der Grenze zu Irland herrscht Chaos, es kommt zu bürgerkriegsartigen Aufständen. So der Tenor vieler Beobachter zum Thema No-Deal-Brexit am 31. Oktober.

Auf der anderen Seite stehen die Leave-Befürworter um Premier Boris Johnson, von denen manche das Empire wiederauferstehen sehen. Wie so oft liegt die Wahrheit zwischen Unkenrufen und Träumen. Klar ist, daß nicht nur dem Vereinigten Königreich große Veränderungen bevorstehen: „Wir haben das fünftgrößte Handelsvolumen weltweit mit Großbritannien, das bedeutet für Deutschland riesige potentielle Verluste“, warnt Andreas Meyer-Schwickerath, Geschäftsführer der Britischen Handelskammer in Deutschland (BCCG). Damit ist nicht nur eine konjunkturelle Delle gemeint: die Industrieproduktion in der EU ist seit einem Jahr ohnehin rückläufig.

Ein Niedrigsteuerparadies jenseits des Ärmelkanals?

Schon nach dem Brexit-Votum am 23. Juni 2016 gaben die Finanzmärkte zunächst den Skeptikern recht: Das Pfund ist seither auf Sinkflug, es stürzte von über 1,45 auf 1,20 Dollar ab. Der Londoner Aktienleitindex FTSE hat hingegen etwa 15 Prozent hinzugewonnen und den Währungseffekt für ausländische Anleger weitgehend ausgeglichen. Der große Crash blieb bisher aus. Und er wird wohl nicht kommen – zumindest nicht des Brexits wegen. Denn die Chancen für ein prosperierendes Großbritannien nach dem Brexit stehen gut. Viele Standortvorteile sind jahrhundertealt und können von der EU nicht einfach sabotiert werden. Nach dem Brexit „werden wir Vermögenswerte in Höhe von etwa 1,3 Billionen Euro haben, die von London in den Euroraum verlagert werden“, prognostiziert Andrea Enria, Chef der einheitlichen Bankenaufsicht (SSM) der EZB.

Doch London wurde nicht erst unter Margaret Thatcher ein globales Finanz- und Wirtschaftszentrum. Dieser Status geht auf das Empire und den Status des Pfund Sterling als damaliger Leitwährung zurück. Dazu kommt das englische Recht, das grenzüberschreitende Finanz­instrumente sowie Handelsverträge dominiert, selbst wenn keine der Parteien in England beheimatet ist. Die Befreiung von der EU-Bürokratie dürfte in diesen Bereichen zu Innovationen führen, die dann die Führungsrolle Londons weiter zementieren. Großbritanniens Niedrigsteuerstrategie hat schon viele Firmen veranlaßt, ihren Sitz dorthin zu verlegen.

Irland hat zwar vorläufig noch niedrigere Sätze, doch einige Tories wollen die Unternehmensteuern auf irische 12,5 Prozent senken, während der Spitzensteuersatz bei Einkommen um fünf Prozentpunkte sinken soll. Dies könnte die Verlagerung vieler Funktionen mit hohen Einkommen nach London beschleunigen. Der Wegzug von Spitzenverdienern der Finanzbranche wegen des Brexits hielt sich bisher in Grenzen. Auch wenn London nicht gleich zur Steueroase wird: Zum Ärger der EU wird es steuerlich ein Magnet bleiben.

Doch noch wichtiger nach einem Brexit dürfte ein neues Freihandelsabkommen mit den USA werden. Donald Trump hat ein solches Abkommen angeboten. Die Chancen für einen Abschluß in Rekordzeit stehen gut: Sowohl Johnson als auch Trump müssen Erfolge vorweisen. Johnson, um zu zeigen, daß der Brexit die richtige Entscheidung war, und Trump, um seine Philosophie von bilateralem Freihandel statt multilateralem Geschwafel endlich auch mit einem europäischen Partner umzusetzen. Dem US-Präsidenten kommt es auf Gegenseitigkeit an: ein freier Zugang zum US-Markt wie zum britischen Markt. Ein solches Abkommen könnte neue Maßstäbe setzen, wenn Trump null Prozent Zoll auf beiden Seiten umsetzt. 

Trumps Sicherheitsberater John Bolton brachte schrittweise branchenspezifische Verhandlungen ins Spiel, was allerdings nicht den Bestimmungen der Welthandelsorganisation WTO entsprechen würde. Anderen Berichten zufolge könnte ein Abkommen schon im September unterschrieben werden – eine politische Blamage für die EU, wenn Großbritannien nach jahrelangen Verhandlungen die EU ohne Abkommen verläßt, aber in nur ein paar Monaten ein Freihandelsabkommen mit den Amerikanern verhandeln kann.

Die Verluste aus dem EU-Handel kann es nicht ausgleichen. Die USA stellen zwar mit 13,4 Prozent der Exporte den größten Handelspartner noch vor Deutschland (9,6 Prozent) und der Handelsüberschuß liegt bei zwei Milliarden Dollar, doch fast die Hälfte aller britischen Exporte geht in die EU. Ihr Anteil geht zwar zurück, doch Handelsströme gehen schneller verloren, als sie aufgebaut werden können. Auch die Strategie des Weißen Hauses, Firmen und Fertigungsanlagen aus China in andere Staaten zu verlegen, dürfte eine Motivation der Amerikaner sein. Doch das britische Lohnniveau wird kaum Massenproduktion aus China anlocken.

Inwiefern deutsche Exporte leiden, ist unklar, denn die Pfundschwäche hat „Made in Germany“ bereits verteuert. Im bilateralen Handel wurde von Deutschland 2018 ein Überschuß von 45 Milliarden Euro erzielt – der zweithöchste nach den USA (48,9 Milliarden) und vor Frankreich (40 Milliarden).

Margaret Thatcher träumte von Großbritannien als dem Singapur vor Kontinentaleuropa. Spötter warnten, es könne zu Madagaskar werden. So schlimm wird es nicht kommen. Doch auch wenn Großbritannien nach dem Brexit mit niedrigen Steuern und als Freihandelsparadies langfristig besser aufgestellt ist als die EU, könnte die wirtschaftliche Lage in der Anfangsphase schwieriger werden, als die Brexiters erwarten. Immerhin: Den Flugverkehr will die EU bis 30. März 2020 auch bei einem ungeregelten Austritt nicht behindern.

Britische Handelskammer in Deutschland:  www.bccg.de