© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Pankraz,
Dirk Jörke und der Raum der Politik

Regionalwahlen gibt es in vielen demokratischen Staaten der Welt, doch eigentlich nur in Deutschland können daraus richtige „Schicksalswahlen“ werden, die den ganzen Staat prägen und seinen Kurs bestimmen. Die große Unabhängigkeit der deutschen Länder von der Zentralregierung, ihre Sonderrechte und Privilegien machen das möglich. Manche Politiker empfinden das als „unnatürlich“, ja, „undemokratisch“, zumindest als lästig. Aber nicht wenige forschungseifrige Politologen reagieren darauf eher vergnügt. Sie finden Anlaß, über wichtige Fragen demokratischer Politik nachzudenken, etwa über ihre Räumlichkeit. Braucht die Demokratie eine gewisse Raumdimension, um wirklich funktionieren zu können?

Ein soeben erschienenes Buch des Darmstädter  Politikwissenschaftlers Dirk Jörke (48) ist diesem Thema gewidmet: „Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation“ (Suhrkamp, Berlin 2019, kartoniert, 283 Seiten, 18 Euro). Demokratie, schreibt Jörke, „funktioniert nur in überschaubaren Einheiten mit einer einigermaßen homogenen Bevölkerung und Politikern, die sich mit dieser Bevölkerung identifizieren (…) In der Europäischen Union ist es damit unter den momentanen Verhältnissen schlecht bestellt, sie ist schlicht zu groß, um demokratisch zu sein.“

Deshalb ist es notwendig, resümiert Jörke klipp und klar, „daß gewisse Kompetenzen von europäischer Ebene wieder an die Nationalstaaten zurückgegeben werden“. Damit greift er in ein Wespennest. Die ersten Kritiken an dem Buch in unseren  „Leitmedien“ reagierten darauf voraussehbar säuerlich, wenn nicht gar empört. Der Rechtsgelehrte und Jurist Christoph Möllers in der FAZ warf  dem Darmstädter schlichtweg  „linke EU-Kritik“ vor. Er, Jörke, berufe sich in seinem Buch viel zu oft auf den geborenen Revoluzzer Rousseau oder auf den frühen Montesquieu. Besser wäre gewesen, er hätte sich ordentlich an Thomas Jeffeerson oder an die französischen Republikaner von 1789 gehalten. 


Auch Pankraz hat einiges  gegen das Jörke-Buch einzuwenden, doch nicht weil es angeblich zu EU-feindlich ist, sondern weil es unüberlesbar auf bloße Quantitäten abgestellt ist und dadurch die wirkliche Dimension des Problems verfehlt. Natürlich stimmt es: Der Stil einer politischen Herrschaft ist abhängig von der puren ausdehnungsmäßigen Größe der Gebiete, die sie besitzt, eine Demokratie in Belgien sieht anders aus als eine Demokratie in Indien. Doch das bleibt im Grunde zweitrangig. Denn Raum hat nicht nur Ausdehnung, sondern auch und vor allem Qualität, farbige Differenz, zeitliche Dimension. 

Zeitliche, historische Räumlichkeit ist es, die die Identität des Menschen – des einzelnen wie die Gemeinschaften – primär prägt, sowohl äußerlich wie innerlich. Jeder Urlaubsreisende in fremde Länder erfährt das. Ihn interessiert nicht die ausdehnungsmäßige Größe des Landes, das er besucht, sondern einzig die Menschen, denen er begegnet, und die von ihnen geprägten Landschaften. Noch die einsamsten, „wildesten“ Wälder und Gebirge gewinnen erst Zugänglichkeit und  wahre Anteilnahme durch die Erzählungen und Lebensweisen der sie umgebenden indigenen Völker. 

Wenn es jemanden gibt, für den der Raum nichts als quantitative Ausdehnung ist, so sind es imperialistisch gesinnte Militärstrategen, die Eroberungspläne ausarbeiten, und etwas von der Mentalität dieser Militärstrategen fällt heutzutage zweifellos auch auf die staatliche Innenpolitik, nicht zuletzt in der Demokratie. Die Überzeugung von der angeblichen Wissenschaftlichkeit des rein quantitativen, „mathematischen“ Denkens hat die Politik im Ganzen erfaßt. Man denkt nur noch in Quantitäten, bestellt laufend „Studien“ darüber, wie viele Leute etwas wollen oder nicht wollen – und hält das dann für Demokratie!


Die „Leute“ freilich, die potentiellen Wähler, haben das Spiel mittlerweile durchschaut, haben gemerkt, daß es gar nicht um sie geht, um die Bewahrung ihrer Identität, für die die Politik an sich zuständig sein sollte, sondern um irgendwelche Strategiespiele in höheren Etagen, um Machterhaltungsspiele von eingebildeten „Eliten“, deren Machtbasis immer dünner wird. Wobei die Situation für die Leute in der EU – da hat Dirk Jörke ja nur allzu recht – besonders absurd ist. 

Die dort Mächtigen tun so, als gehe es darum, für den Erhalt und den Ausbau der quantitativen Größe der EU gleichsam „alles“ zu tun, in jedem europäischen Land auch noch den letzten Schimmer nationaler Identität mit Hilfe der medialen Nazikeule  zu tilgen – und dabei sieht inzwischen auch der letzte Fernsehnutzer Tag für Tag, was für ein trostloser Haufen die EU nicht zuletzt dank der Berliner Politik geworden ist. Jeder innere Zusammenhalt der Mitglieder ist verschwunden, von imperialer Größe à la China, USA oder Rußland kann keine Rede sein. Die EU ist politisch zur Lachnummer geworden.

Auch die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen haben das offenbar gemacht. Was sie aber ebenfalls an den Tag brachten, ist der Umstand, daß der Widerstand gegen diese Art von Politik rasant wächst. Die Ministerpräsidenten von SPD (Potsdam) und CDU (Dresden) sind zwar noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, aber ihre jeweiligen Parteien wurden hart abgestraft, besonders deren Berliner  Führungspersonal. „Wir haben Kretschmer gewählt, nicht Merkel. Die Merkel haben wir abgewählt.“ So einige Dresdner Wähler ungeniert vor laufenden Kameras.

In Hinblick auf das Thema „Der Raum in der Politik“ bedeutet das: Immer mehr Zeitgenossen wollen endlich auch in der Politik eine Art Wende à la Albert Einstein hin zur Raum/Zeit-Identität. Raum ist stets auch Zeit, Quantität und Qualität überschneiden und durchdringen sich, und die Qualität genießt dabei ein Prä, eine Führungsmodalität. Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen auch unser Blick auf den Raum. Denn sie, die Zeit, ist mit unserem Innersten, unserer Seele, verbündet.