© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Stimme der Vernunft
Katholische Kirche: Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton wird nicht seliggesprochen
Matthias Matussek

Vor einigen Jahren besuchte ich die Jahrestagung der American Chesterton Society in San Antonio im US-Bundesstaat Texas. Ich erreichte ein Hochplateau der Vernunft. 

Meine Reise dorthin war wie eine Fahrt durch die Hölle der Unvernunft und ihrer Gefährdungen, nichts als meine Reporter-Neugier trieb mich voran, ich besuchte einen Marihuana-Doktor in Hollywood, wurde ausgeraubt in Las Vegas, wurde wegen Geschwindigkeitsüberschreitung am Rande eines Reservats in Arizona eingebuchtet, sprach dort im Knast mit einem inhaftierten Crystal-Meth-Dealer und Navaho-Indianern über Gott, wurde gegen Kaution entlassen und kam im Merger-Hotel in San Antonio an wie der Terminator in Teil zwei, bevor er im kochenden Schmelztiegel versinkt – nur noch mit einem blinkenden Auge. 

Ich schrieb darüber in meinem Buch „White Rabbit“, das – mit Chesterton als Weggefährte – auch eine Innenschau unseres verluderten Berufsstandes schildert.

In diesem alten Kolonial-Hotel waren Tische vor den großen Bankettsälen aufgestellt, die mich an die Tapetentische vor der TU-Mensa im Berlin um 1970 erinnerten, Zeugnisse des Lesehungers: Bücher, nichts als Bücher, schöne Literatur und Krimis, Philosophisches, Poesie, Theologisches, Verschollenes, Wiederaufgetauchtes, obskure Kleinverlage, Taschenbücher und prächtig gebundene Ausgaben, Abenteuer der Seele, Welterklärungen, Hochspannung zwischen Buchdeckeln, lauter Funde. 

Sie hatten alle den gleichen Autor: Gilbert K. Chesterton.

Auf einigen Tischen wurden T-Shirts angeboten mit dem Aufdruck „Che“. Auf der Rückseite dann die Fortführung „sterton“. Die Anspielung auf die Ikone der kubanischen Revolution und Posterhelden linker Wohngemeinschaften war selbstverständlich beabsichtigt, hätte Chesterton gefallen. Er hatte Humor. Hier, im Merger-Hotel, war er Revolutionsführer eigener Art, einer der Seele, des Widerstands. 

Chesterton sei so lustig, daß man, wie Kafka einst bemerkte, annehmen konnte, er habe tatsächlich Gott gefunden. Ansonsten hatte er mit dem durch und durch humorlosen Che Guevara nicht das geringste gemein: schwere Figur, Monokel im Auge, ein Berg von Kerl mit albernem Hütchen auf dem Kopf. Doch er wurde dort, im Merger-Hotel, wie eine Kultfigur gehandelt. 

Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Zwischen den Bücherstapeln lag ein Katechismusbildchen aus mit einem Gebet. Es beginnt mit den Worten: „Gott, unser Vater, du hast das Leben deines Knechtes Gilbert Keith Chesterton mit dem Sinn für Wunder und Freude erfüllt und ihm den Glauben geschenkt, der die Grundlage bildete für sein unermüdliches Werk, seine Großherzigkeit allen Menschen, besonders aber seinen Feinden gegenüber, und mit einer Hoffnung, die seiner lebenslangen Dankbarkeit für das Geschenk des Daseins entsprang …“ 

Daß Erzbischof Peter Doyle aus Chestertons Heimatdiözese Northampton nun das seit Jahren laufende Seligsprechungsverfahren für den Poeten und Polemiker, den großen Journalisten und Glaubenskämpfer gestoppt hat, ist tatsächlich eine Ohrfeige für dessen weltweite Anhängerschaft. Angeregt hatte das Verfahren der 1974 aus Anlaß seines hundertsten Geburtstages gegründete Verein „The Society of Gilbert Keith Chesterton“.

Der Bischof begründete seinen ablehnenden Entscheid unter anderem mit dem Fehlen eines lokalen Kultes, der in solchen Verfahren vorausgesetzt wird, womit er bedingt recht haben mag – wiewohl es selbstverständlich Prozessionen zu seinem Grab in Beaconsfield in der mittelenglischen Grafschaft Buckinghamshire gibt. 

Unstrittig allerdings ist, daß es einen globalen Kult um ihn gibt, daß viele Denker aus allen Teilen der Welt ihm durch die Geschichte ihre Referenz erwiesen haben und erweisen, von Jorge Luis Borges und J.R.R. Tolkien bis Hannah Arendt und Ernst Bloch, der meinte, Chesterton sei „einer der gescheitesten Männer, die je gelebt haben“. 

Er hat viele, nicht nur mich, berührt in seiner Weigerung, Kirche und Glauben dem Relativismus der Moderne auszuliefern, und er erinnerte mich darin sehr an Papst Johannes Paul II. Chesterton schrieb: „Die Kirche scheint immer der Zeit hinterher zu sein, obwohl sie doch in Wirklichkeit jenseits der Zeit ist; sie wartet, bis der letzte Tick seinen letzten Sommer gehabt hat.“

Das ist die Stimme der katholischen Vernunft. Eine, die auch konfessionsübergreifend wirkt, wie bei meinem kürzlich verstorbenen Freund Hans Dürr, der als Pfarrer in dem Nest Lohn in der Schweiz wirkte und mich mit Chesterton-Zitaten erfreute, oder einem anderen protestantischen Theologen, der nicht müde wird, Chestertons Orthodoxie zu feiern und nun selber, wie Chesterton 1922, vor seiner Konversion zur una sancta steht (und derzeit einen Krimi in der Nachfolge des Father Brown schreibt und mich, Kapitel um Kapitel, in die schönste Laune versetzt).

Wir Chestertonians finden in den Essays des „Fat Guy“ besonders in „Ketzer“ und „Der unsterbliche Mensch“ und „Orthodoxie“ jenen spirituellen Proviant und jene Kampfbereitschaft, die wir in der offiziellen Kirche so schmerzlich vermissen, und dazu einen beflügelnden Scharfsinn, der die glimmende Glut des Glaubens auch für uns zur Skepsis neigende Kopfarbeiter immer wieder neu anzufachen vermag.

Unter den Gründen, die zu Bischof Doyles Urteil geführt haben, gab dieser auch einen „Antisemitismus“ in seinen Schriften an. Tatsächlich war Chesterton in seiner Kritik an Kapitalismus und Sozialismus vor zeittypischen antijüdischen Vorurteilen nicht frei.

Allerdings, wie Ann Farmers Buch „Chesterton and the Jews“ (2015) belegt, war er „kein Antisemit“, sondern mag beeinflußt gewesen sein. Ein wesentlicher Unterschied, wie Edward Kessler vom „Zentrum für jüdisch-christliche Beziehungen“ in Cambridge schreibt. Chesterton hatte viele jüdische Freunde, er stand als erster gegen Hitler auf, und verdammte Rassismus und Eugenik – Glaubensüberzeugungen der Zeit – auf das Heftigste. Im übrigen: Auch der Apostel Paulus hat so manche antijüdische Stelle – sollte man ihm deshalb die Ehre der Altäre verweigern?

Nein, Chesterton ist die Stimme der katholischen Vernunft.

Unter den weiteren Gründen der Absage einer Kanonisierung wurde „mangelnde Spiritualität“ genannt. Nun, Chesterton, der fröhliche Zecher, schlug über jedem Glas Whiskey, das er trank, das Kreuzzeichen, ist das nicht ein Beweis fürs Gegenteil? Und er schlug viele Kreuze.

Er plädierte für die Nation, die er ein „geistiges Produkt“ nannte, und die er gegen völkische Vereinnahmungen heftig verteidigte.

Er plädierte für die Familie, die er gegen den Zugriff des Staates und seine Zumutungen schützte.

Er nannte die Geburt ein größeres Abenteuer als die romantische Liebe, denn wir betreten, so sagte er, eine Welt, die wir nicht gemacht haben. „In anderen Worten: wir betreten ein Märchen.“

Er ist vor allem eines: Ein großer Kollege, der bewies, daß der Journalismus, der sich nicht korrumpieren läßt, das schönste aller Betätigungsfelder ist.

Chesterton wurde von Pius XI. „fidei defensor“ genannt,  „Verteidiger des Glaubens“. Daß die Kirche heute mit ihm nichts am Hut haben will, spricht nicht gegen ihn, sondern gegen eine Kirche, die der Orthodoxie abgeschworen hat. 

Diese Kirche allerdings nannte sein Weggefährte Hilaire Belloc schon in den dreißiger Jahren einen „Nebel der Mittelmäßigen“. 






Matthias Matussek, Jahrgang 1954, veröffentlichte zuletzt das Buch „White Rabbit oder Der Abschied vom gesunden Menschenverstand“ (FinanzBuch Verlag, München 2018, geb., 320 S., 22,99 Euro)

 www.matthias-matussek.de

Gilbert Keith Chesterton: Wenn ich nur eine einzige Predigt halten könnte. Essays. Mit einem Vorwort von Matthias Matussek. Kösel Verlag, München 2016, gebunden, 112 Seiten, 17,99 Euro

Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie: Eine Handreichung für die Ungläubigen. Mit einer Einleitung von Martin Mosebach.  fe-Medienverlag, Kisslegg 2011, kartoniert, 304 Seiten, 9,95 Euro

Gilbert Keith Chesterton: Pater Brown Geschichten. Marix Verlag, Wiesbaden 2015, gebunden, 192 Seiten, 6 Euro