© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Ressentiments aus dem Zettelkasten
Literatur: Durs Grünbeins Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen, Notaten und Gedichten
Thorsten Hinz

Der Buchtitel „Aus der Traum (Kartei)“ ist mehrdeutig. Er läßt an einen Zettelkasten voller dichterischer Imaginationen denken, den der Lyriker, Essayist und Übersetzer Durs Grünbein (56), Träger zahlreicher Auszeichnungen, darunter des renommierten Georg-Büchner-Preises 1995, hier auf knapp 600 Seiten aufblättert. Doch könnte das Wortspiel auch eine Zeitenwende, eine neue Erkenntnisstufe oder eine große Desillusionierung andeuten oder alles zusammen. Der Band vereint „Aufsätze und Notate“, das heißt Gedichte, Essays, Artikel, Reden, Rezensionen. Manches hat man schon vor Jahren an anderer Stelle gelesen. Leider fehlen Hinweise auf den Erstabdruck und die Anlässe der Texte, was es im Einzelfall erschwert, sich einen vollständigen Reim auf sie zu machen.

Bekundungen politisch-korrekter Abscheu

Den Satz des Schweizer Psychiaters und Psychoanalytikers Ludwig Binswanger, daß die Sprache vor uns da sei und „für uns alle dichtet und denkt“, nimmt Grünbein zum Anlaß, die eigene exklusive Aufgabe zu definieren: „Dichter aber sind solche,/ die das Nadelöhr finden,/ (…)/ das Loch im Himmel, den Tränenteich“. Das ist schön gesagt. Vor Sentenzen wie: „Blitzspur im nächtlichen Dunkel – das sind die Träume, ein grelles Nachbild des Oszillierens zwischen Sein und Nichtsein“, steht der Leser allerdings so ratlos wie die Stadtreinigung vor der unangemeldet abgestellten

Blechinstallation auf dem Marktplatz: „Ist das Kunst? Oder kann das weg?“

Enervierend ist Grünbeins „Namedropping“, sein Renommieren mit großen Namen, das für den Leser selten einen Mehrwert ergibt. Hervorzuheben sind seine Anmerkungen zu Pasolini, die Aufsätze über Ovid, über Stefan Georges Gedicht „Porta Nigra“ und über Ezra Pounds Poem „Canto“, obwohl der Titel „Causa Pound“ mehr verspricht, als der Text hält. Die Anspielung an das rechtsautonome Zentrum „Casa Pound“ in Rom weckt Erwartungen, die nicht eingelöst werden, denn Grünbein, anstatt sich mit dem Selbstverständnis der Rechtsaktivisten auseinanderzusetzen (etwa anhand von Dominico di Tulios Casa-Pound-Roman „Wer gegen uns?“), den mimetischen Wechselwirkungen zwischen links und rechts nachzuspüren und so ein neues Guckloch in die spannungsreiche Gegenwart zu öffnen, beschränkt sich auf Bekundungen politisch-korrekter Abscheu. 

Überhaupt enthalten seine Texte kaum einmal Widerhaken, überraschende Wendungen, originelle, provokative, gar kühne Gedanken. Sie sind meistenteils glatt, mitunter ein bißchen fischig. Die Konkurrenz zwischen den Lyrikern Paul Celan und Johannes Bobrowski ist nun wirklich ein alter Germanisten-Hut. Celan, der Ghetto-Überlebende, hatte dem Wehrmachtssoldaten Bobrowski vorgeworfen, in die Rolle des NS-Opfers zu schlüpfen und ihn thematisch zu enteignen. Daran hätten sich Reflexionen über das Wilkomirski-Syndrom – die Anmaßung des Holocaust-Schicksals – knüpfen lassen, dem jüngst erst die Historikerin Marie Sophie Hingst zum Opfer fiel, die sich eine frei erfundene jüdische Familiengeschichte zulegte.

Das Phänomen der Schuldtranszendenz

Im künstlerischen Gefälle zwischen den suggestiven Naturgedichten und den platten Schuldbekenntnissen in Vers und Prosa offenbart sich das Phänomen der Schuldtranszendenz als ein grundlegendes ästhetisches Problem der deutschen Nachkriegsliteratur. Aber Grünbein mault lieber über Ernst Jüngers „Marmorklippen“: Sie böten „Allegorien anstelle von Analysen, ambivalente Fiktionen“. Tatsächlich? Vielleicht steckt die Analyse ja in der Allegorie, und der Fehler liegt bei Grünbein, weil er von einem literarischen Text über den Nationalsozialismus parteiliche Eindeutigkeit erwartet?

Bei politisch-operativen Themen kann der Dichter schließlich das Wasser nicht halten und läßt das pure Ressentiment ungebremst aus sich heraussprudeln. Der gebürtige Dresdner wettert gegen die Pegida-„Kleinbürger, Sklaven der Konsumgesellschaft“, die „ihr Revier“ und „ihr bißchen Besitz“ gegen Fremde verteidigen. Die „Souveränitätserklärung“ von 1989 „Wir sind das Volk“ sei zum Schlachtruf des „Monsters“ verkommen, weil die entlassenen Kinder des DDR-Sozialismus sich in der „Erwachsenenwelt“ des Westens überfordert fühlten. Wieviel klüger, analytischer und menschenfreundlicher ist dagegen Volker Brauns kurzer Text „Die Leute von Hoywoy“, in dem die Wiedervereinigung als ein Gewaltakt aus Enteignung und Kolonisierung geschildert wird, der über das falsche alte bloß ein falsches neues Bewußtsein schiebt.

Der Narzißmus ist das natürliche Vorrecht des Dichters und zugleich seine größte Gefahr. Grünbein kommt überhaupt nicht auf den Gedanken zu fragen, warum alte Weggefährten, die ebenfalls unter den DDR-Restriktionen gelitten hatten, heute zu ganz anderen Schlüssen kommen als er. Sein Zettelkasten gibt dazu nichts her, die Imagination ist erlahmt.

Er perpetuiert lediglich den politischen Bewußtseinsstand von, sagen wir, 1995, und die dazugehörige Ankunft-im-Westen-Rhetorik jener Zeit, die ihren Nutzern den inoffiziellen Ehrentitel „Verdienter Neubürger der alten Bundesrepublik“ einbrachte. Über eine Sitzung der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung in Sarajewo dichtet er ironiefrei: „Frühjahrstagung,/ wie jedes Jahr wieder./ Man kennt sich:/ Allgemeines Hallo!“ Der Kulturbetrieb ist sein Revier, das er auf keinen Fall riskieren will. Einen Aufsatz, der sich mit der privilegierten Existenz in diesem artifiziellen Zoo auseinandersetzt, sucht man in dem dicken Buch logischerweise vergebens.

Fraglos enthält es zeitlos schöne Passagen, doch vor allem erscheint Durs Grünbein hier als Literatur-Rentier: als Kuponabschneider seines frühen Ruhmes.

Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei): Aufsätze und Notate. Suhrkamp, Berlin 2019, gebunden, 573 Seiten, 28 Euro