© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Von Kattowitz nach Bielefeld
Hochöfen und Rosenblätter: Die Dresdner Schriftstellerin Eva Rex hat mit„Huta Ferrum“ einen Schlesien-Roman vorgelegt
Bettina Gruber

Sie erinnerte sich an die Rosenblätter, die sie, aus einem Körbchen schöpfend, auf die Straße streute, wenn sie sich mit der Mutter in die Prozession einreihte.“ Das kleine Mädchen mit riesiger Tüllschleife auf dem Kopf schwenkt bei diesen Gelegenheiten „ein Fähnchen, und das war manchmal weiß und manchmal rot“. Wie ihr Kopfschmuck: Bei passender Gelegenheit wird die unschuldige weiße Schleife durch ein rotes Kopftuch ersetzt. „Und das eine war Fronleichnam, und das andere die Parade zum 1. Mai.“ 

Mit dieser stimmungsvollen Erinnerung an das Kindheitserleben in Polen, genauer in Schlesien, setzt Eva Rex’ Roman „Huta Ferrum“ („Eisenhütte“) ein, der mit genauer Beobachtung und Plastizität ein Erwachsenwerden zwischen dem Kattowitzer Kohlerevier und einer gesichtslosen westdeutschen Mittelstadt schildert. 

Das Leben in der deutschen Provinz ohne die beengenden Bande von Familie, Kirche und Partei erweist sich als eigentümlich leer. Das einzige Versprechen geht vom Theater aus und bleibt uneingelöst: Die Kunst entpuppt sich als Schimäre und Religionsersatz der freieren, aber auch sterilen Gesellschaft, die zunächst verehrte Künstlertruppe als eine von falscher Wichtigkeit durchdrungene, um sich selbst kreisende kleine Welt.

Lebendige Zeit- und Kulturgeschichte

Den erzählerischen Rahmen bilden zwei Beziehungsgeschichten: die Daueraffäre der Protagonistin mit einem verheirateten Mann, der sich nicht festlegen will, von ihrer Seite grundiert von Erinnerungen an den verschwundenen polnischen Kindheitsfreund Tomek. Der einstige Spielgefährte hat alle Brücken zu Polen abgebrochen. Die Desillusionierung tritt auf medialem Wege ein, als die Protagonistin ihn endlich in den USA ausfindig macht und mit ihm skypt. Dysfunktionale Beziehungen sind ein Lieblingsthema modernen wie postmodernen Erzählens: Eva Rex behandelt sie auf der Höhe der Zeit, aber das tun viele Autoren, und das Thema ist erschöpft.

Der Grund, warum man diesen Roman gern liest, ist ein anderer: Er ist an erster Stelle ein lebendiges Stück Zeit-, Kultur und Mentalitätsgeschichte in fiktionaler Form. Er beschreibt deutsche und polnische, polnische und schlesische, westlich-kapitalistische und östlich-kommunistische Lebenswelten, die zwar nicht zusammenprallen, einander sich aber auf vielfältige Weise abstoßen und doch wiederum anziehen. Ein Beispiel ist das Gespräch mit den Kattowitzer Verwandten, die nicht verstehen können, warum die doch in den goldenen Westen Entronnene die für sie verlorene Lebensweise idealisiert, während die Erzählerin wiederum angesichts der sich in üppiger polnischer Gastfreundschaft buchstäblich biegenden Tische die Klagen über Inflation und Mini-Renten für Gejammer hält.

Gespräche dieser Art werden vielen Lesern bekannt vorkommen, es sind wohl unzählige davon geführt worden. Laut dem Zensus von 2011 leben in Deutschland etwa zwei Millionen Menschen „mit polnischem Migrationshintergrund“, viele von ihnen sind Schlesier. Und die „richtige“ Perspektive steht aus, denn angesichts der Form, die der Globalisierungswahn mittlerweile angenommen hat, ist die Erzählerin, die ihr beengtes, aber geborgenes Leben in einem kommunistischen Polen verteidigt, mehr als nur Opfer einer rückwärtsgewandten Illusion oder falschen Idylle, wie sich umgekehrt die Beschwerden der polnischen Verwandtschaft nicht ohne weiteres von der Hand weisen lassen.

Daß hier keine Erzählinstanz den richtigen Blickwinkel vorgibt, ist eine der Stärken dieses atmosphärisch sehr dichten Buches, das dem Leser trotz des Handlungsbogens über zwei Systeme keine weltanschaulichen Schlußfolgerungen aufdrängt. Die 1969 in Katowice geborene und in Bielefeld aufgewachsene Verfasserin lebt heute in Dresden, der Freistaat Sachsen förderte die Entstehung des Buches mit einem Literaturstipendium – wie das Ergebnis zeigt, durchaus zu Recht. 

Eva Rex: Huta Ferrum. Roman. Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2019, kartoniert, 175 Seiten 13,50 Euro