© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Achten Sie auf diese Steine
Spurensuche östlich der Neiße: Entlang des Queis erinnern Kirchen an die Zeit der Gegenreformation und die sächsische Toleranz
Paul Leonhard

Gruß und Frieden Euch von unserem Vater und Herr Jesus Christu.“ Der Spruch steht in golden geprägten gotischen Buchstaben auf dem braunen Holz des Altars. Direkt unter einer Statue des Gekreuzigten. In deutscher Sprache. Das allein ist schon ein Alleinstellungsmerkmal im katholisch und polnisch gewordenen Schlesien. 

Die Frauenkirche in der niederschlesischen Stadt Lauban, das einst zum mächtigen Sechsstädtebund der Oberlausitz gehörte, ist einer der wenigen Orte jenseits der Neiße, in denen noch heute lutherische Gottesdienste gefeiert werden. Einmal im Monat sogar in deutscher Sprache. „Ein ganz kleiner Kreis findet sich da zusammen“, sagt Pfarrer Cezary Królewicz. Zur Predigt reist extra Andrzej Fober aus Breslau an. Der 60jährige Pfarrer, der aus Teschen stammt, betreut seit 1999 die deutschsprachige Gemeinde der evangelischen Kirche in Niederschlesien. 

Die Mitte des 15. Jahrhunderts vor den Stadttoren errichtete Frauenkirche diente in den Jahren der Glaubensverfolgung ab 1654 evangelischen Christen aus den umliegenden Ortschaften Berthelsdorf, Thiemendorf und Klein Neundorf als Zufluchtskirche. Jeden Sonntag kamen sie von jenseits der Landesgrenze hierher. 

Im 21. Jahrhundert ist die kleine Kirche erneut zur Zufluchtskirche geworden. Diesmal nicht für Glaubensflüchtlinge, sondern für die letzten in der „Stadt Gottes“ lebenden alten Deutschen. Obdach bietet die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen, der das 1887/88 im neugotischen Stil umgebaute Gotteshaus nach Kriegsende übergeben wurde. Jenseits einer viel befahrenen Straße mahnt an einem Berg ein Stein die Passanten in polnischer und deutscher Sprache „Geehrter Bürger, achten Sie auf diese Steine. Bis in die 70er Jahre gab es hier einen evangelischen Friedhof.“

Gegenreformation der Habsburger

Obwohl selbst nicht von der Habsburger Gegenreformation betroffen, ist Lauban durchaus der geeignete Ausgangsort für eine Entdeckungsreise, in der es um Flucht und Vertreibung, Rückkehr und Neuansiedlung geht. Nicht um jene vor 74 Jahren, sondern um eine, die in jener knapp 200 Jahre umfassenden Epoche spielt, als der schmale Queis zwischen 1635 und 1815 eine Glaubensgrenze bildete: linkerhand das protestantische Kurfürstentum Sachsen, rechterhand das Land der Habsburger und der Gegenreformation. In weiten Teilen Schlesiens und der Oberlausitz sowie in den Randgebieten Böhmens war die Lehre des Reformators Martin Luther auf fruchtbaren Boden gefallen. Bereits 1520 hielt Melchior Hoffmann in Neukirch bei Liegnitz die erste lutherische Predigt. 

Da sich auch die Herzöge der schlesischen Lehnsfürstentümer zur neuen Lehre bekannten, waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts etwa 90 Prozent der Bevölkerung Schlesiens lutherisch. Dann setzte 1620 nach der Niederlage der protestantischen böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg die Gegenreformation der Habsburger ein. Aus Böhmen wurden alle Andersgläubigen vertrieben, in Schlesien deren Kirchen geschlossen. Fortan, bis zur Eroberung Schlesiens durch Preußen, mußten die Lutheraner ihren Gottesdienst im benachbarten Ausland abhalten.

So wiesen beispielsweise den am Fuße des Riesengebirges lebenden Lutheranern die Glocken der Gebhardsdorfer Kirche mit ihrem Läuten den Weg zum Wort des Herrn. Um dieses zu vernehmen, nahmen jeden Sonntag Tausende stundenlange Wege auf sich. An den Grenzen zur brandenburgischen Neumark und zur sächsischen Oberlausitz entstanden etwa 150 Zufluchts- und Grenzkirchen, wobei erstere bereits genutzte Gotteshäuser waren, die ausgebaut wurden, während letztere neu entstanden. Namen wie Gebhardsdorf, Volkersdorf, Christianstadt am Bober, Jeschkendorf, Holzkirch, Wigandsthal, Siegersdorf und Rengersdorf kennen heute nur noch Eingeweihte. Die grünen Hinweisschilder an den Straßen nennen in weißer Schrift andere Namen: Giebultow, Wolimierz, Krystkowice, Jaszkowice, Koscielnik, Pobiedna, Zebrzydowa und Stankowice.

Die zwischen 1652 und 1657 nur aus Holz und Lehm errichteten prachtvollen Friedenskirchen in Jauer und Schweidnitz der Protestanten (die in Glogau existiert nicht mehr) halten als Weltkulturerbestätten die Erinnerung an eine besondere Bestimmung des 1648 geschlossenen Westfälischen Friedens wach, die den Protestanten der drei Städte gestattete, vor den Toren diese Gotteshäuser zu bauen. 

Neben ihnen gibt es Zufluchts- und Grenzkirchen, Gnadenkirchen und Bethäuser mit ihrer jeweils ganz speziellen Bedeutung und Geschichte, die aber in Vergessenheit geriet, nachdem die ansässige deutsche Bevölkerung nach 1945 vertrieben wurde. Die Reste großer Höfe künden noch heute vom Geschick der größeren Bauern, verfallene Katen von einem Leben an der Existenzgrenze.

Die neuen Herren der „wiedergewonnenen Gebiete“ waren römisch-katholischen Glaubens und stolze Nationalisten, die mit dem Deutschtum auch die Reformation gründlich austrieben. Das Innere der evangelischen Kirchen wurde geplündert, an einige Feuer gelegt. Andere verfielen. Die Ruinen wurden später geschleift, und noch einmal ein halbes Jahrhundert später der Roten Armee die Schuld dafür in die Schuhe geschoben. Nieder Wiesa ist dafür ein Beispiel. Als die Einwohner der nach Greiffenberg (Gryfow Slaski) eingemeindeten Ortschaft Wieza Dolna Eigenheime bauen wollten, entdeckten sie Reste eines deutschen Friedhofs. 

Russische Soldaten plünderten Kirchen

Als einige von ihnen nachforschten, was es damit auf sich hat, stießen sie auf die Geschichte selbstbewußter Bürger, die vor 360 Jahren partout der neuen Kirchenlehre die Treue halten wollten. Als ihnen die Obrigkeit 1654 ihre Stadtkirche, die immerhin schon seit 1529 eine evangelische war, schloß, ließ der Stadtrat eine Stunde Fußweg vor Greiffenberg gelegen und damit schon auf kursächsischer Flur, innerhalb eines Jahres eine neue bauen. Diese war selbst nach dem Abzug der Russen noch ein Prachtstück mit Fassadendecke und Emporen, wenn auch lädiert. Gebrandschatzt wurde sie 1949.

Ein Lapidarium mit den ausgegrabenen Grabsteintrümmern und eine Tafel erinnert heute an den Standort der Kirche und die wichtigsten ihrer Pfarrer. An den Choleriker Johann Christoph Schwedler beispielsweise, der eine um Asyl bittende Gruppe Zimmerleute, allesamt mährische Glaubensflüchtlinge, weiterschickte zum Pfarrer Schäfer nach Görlitz und dieser sie weiter zum Grafen Nikolaus von Zinzendorf. Eine Geschichte, die zum Bau von Herrnhut führte und letztlich einem die Welt umspannenden Missionswerk.  Eine Glocke der Kirche hat die Zeiten überdauert und gelangte nach dem Krieg von einem Hamburger Glockenfriedhof ins Geläut der Bamberger Auferstehungskirche.

Von „russischen Horden“, die seine Kirche gepündert hätten, spricht auch Pfarrer Grzegorz Niwczyk. Der 59jährige, erst seit einem Jahr mit der Pfarrstelle betraut, meint die einst evangelischeDreifaltigkeits- und heute katholische Christkönigskirche in Marklissa, dem heutigen Lesna. Der Kirchhof  täuscht ein kleines Ackerbürgerstädtchen vor. Geduckte einstöckige Häuser, an deren Wänden zahlreiche steinerne Epitaphe mit deutschen und lateinischen Inschriften eingemauert sind. Die ältesten stammen aus dem 17. Jahrhundert. Leicht gebeugt gelangt man ins Innere des Gotteshauses. 23 Stufen sind es hinauf bis zur Empore mit der Orgel. Bereits 1525 bekannten sich die Einwohner hier zum evangelischen Glauben.

Plötzlich sind die Kirchen zu klein. Innerhalb weniger Monate werden sie verlängert, werden Gewölbe ausgebaut, ein oder zwei Stockwerke mit Emporen eingezogen. Erst als die Habsburger von den Schweden gezwungen werden, den Bau von sechs Gnadenkirchen zuzulassen, nimmt der Zustrom ab. Nach 1740 werden schließlich in Friedensberg und Flinsberg Bethäuser in Form großer Scheunen errichtet. Die meisten Schlesier kehren in ihre Heimat zurück, während den Glaubensflüchtlingen aus Böhmen der Rückweg versperrt bleibt. Sie gründen fünf neue Dörfer um Marklissa und besuchen die Stadtkirche, die 1712 so erweitert worden war, daß 5.000 Menschen in ihr Platz fanden.

Nach Kriegsende – noch am 8. Mai 1945 hatte ein vom späteren CDU-Bundestagsabgeordneten Alfred Dregger geführtes Bataillon den Ort zurückerobert – werden auch die Deutschen mit tschechischen Vorfahren vertrieben. Das Kircheninnere wird in den 1950er Jahren ausgeschlachtet. Erst seit zwanzig Jahren finden hier wieder Gottesdienste statt, erzählt Pfarrer Niwczyk und schaut ein wenig sprachlos auf ein historisches Foto, das in dem Buch „Schlesische Dorf- und Stadtkirchen“ abgebildet ist: So wundervoll sah also seine Kirche einmal aus. Mit diesen prächtigen Logen und Emporen hätte er sie gern wieder, für seine polnische Gemeinde. 

Die Pfarrkirche St. Michael in Gebhardsdorf mußte 1668 auf das Doppelte vergrößert werden. Ein Turm wurde errichtet. Und der Gutsherr hatte so sehr Geschmack am Zuzug der genügsamen Flüchtlinge gefunden, daß es 1682 zu einem Streit mit der böhmischen Herrschaft Starkenbach um 200 von dort nach Gebhardsdorf geführte Exulanten kam. Die Auseinandersetzung beschäftigte den kaiserlichen Gesandten in Prag und den sächsischen Kurfürsten. Letztlich mußten 120 Personen zurück nach Rochlitz in Böhmen gebracht werden.

1703/1704 wurde die Kirche erneut wegen Platzmangels umgebaut, zu einem rechteckigen Saalbau mit Platz für 2.000 Menschen. Die zweigeschossigen Emporen mit Malereien von 1714 wurden 1963 im Zuge von „Restaurierungsarbeiten“ entfernt. 

Trotzdem staunt der Besucher, wenn er heute die Kirche betritt. Das mit mächtigen Brettern verschalte Tonnengewölbe ist mit christlichen Szenen bemalt. Auch die drei Prinzipalstücke – Kanzel, Taufbecken und Altar – sind noch da, wo sie hingehören. Der mächtige Hauptaltar von 1735 beeindruckt in seiner spätbarocken Pracht. An der Südfassade befinden sich zahlreiche Epitaphien aus dem 17. bis 19. Jahrhundert.

Auf dem Kirchhof des im 13. Jahrhundert gegründeten Friedersdorf am Queis schaut ab und an Friedrich-Carl Graf von Schweinitz, freudig begrüßt vom Pfarrer, nach dem Rechten. Besonders angetan hat es ihm die Gruft seiner Vorfahren. Die Sandsteine haben die Wirren der Jahrhunderte wie durch ein Wunder überstanden und sehen aus, als wären sie gerade restauriert worden. Der 81jährige entziffert die Schrift auf den Epitaphien, die von der Lebensgeschichte seiner Vorfahren erzählen, die sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen läßt. 

1682 hatte Hans Christoph von Schweinitz Friedersdorf erworben und die Exilantensiedlung Neu Schweinitz anlegen lassen. Zuvor war bereits die Siedlung Neu Warnsdorf entstanden.

Die zwischen 1654 und 1656 im Auftrag von Johann Ernst von Warnsdorf errichtete Kirche „Zum Jesusbrunnen“ wurde 1668 auf 2.200 Sitzplätze erweitert und schließlich 1723/24 durch einen steinernen Neubau mit zweistöckigen Emporen und Logen für den Grundherrn ersetzt. Sie diente evangelischen Gläubigen aus Greiffenberg und Umgebung als Grenzkirche und verfügt über ein ähnliches Tonnengewölbe wie die in Gebhardsdorf.

Wer den kunstvollen Hauptaltar der Kirche in Goldberg sehen möchte, muß nach Holzkirch in die dem heiligen Johannes dem Täufer gewidmete Pfarrkirche fahren. Die einstige Zufluchtskirche (bis 1742) für die Einwohner des nahen Steinkirch, deren Kirche 1654 geschlossen wurde, liegt direkt am Queis. Die ursprünglich kleine rechteckige Saalkirche wurde unter dem Zustrom der Gläubigen aus dem Schlesischen vergrößert. Später wurde sie barock überformt und erhielt einen Dachreiter. 

Eine Besonderheit in der wechselvollen Geschichte der Zufluchts- und Grenzkirchen stellt die katholische Pfarrkirche St. Hyacinth in Kriegheide (Pogorzeliska) dar. Hier haben sich Einrichtung und Ausmalung der 1656 von Wolf Alexander von Stosch für die Einwohner von 67 umliegenden Dörfern gestifteten Fachwerkkirche erhalten. Die Sakristeitür zeigt Christus und die beiden Emmausjünger vor den evangelischen Kirchen in Kriegheide und Jauer. Sie sind dargestellt wie reisende Pilger des 17. Jahrhunderts, die sich auf „Kirchenfahrt“ begeben. 

„Volkersdorf im Isergebirge“ steht auf einer großen Tafel. Sie zeigt die Ortschaft, wie sie 1916 auf einer Ansichtskarte abgedruckt war. Der Dorfladen gegenüber wurde seit deutscher Zeit nicht mehr saniert, aber strahlend weiß verputzt steht die Kirche. Die Innenseite der Friedhofsmauer ist mit jahrhundertealten steinernen Epitaphien aus deutscher Zeit geschmückt. Davor liegen die polnischen Gräber mit flackernden Lichtern, als würden die Toten der letzten 70 Jahre die verwitterten Steine schützen wollen. Wie hatte Pfarrer Niwczyk in Marklissa gesagt: „Es ist eure und inzwischen auch unsere Geschichte.“