© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Hinaus ins Licht
Lehren aus einer janusköpfigen Epoche: Hundert Jahre Waldorfpädagogik und ihre ideengeschichtlichen Wurzeln
Heino Bosselmann

Bildungsgeschichtlich dürfte es kaum eine vergleichbare Erfolgsgeschichte geben. Einhundert Jahre Waldorfschulen und Waldorfpädagogik beschränken sich nicht nur auf Deutschland, sondern sind weltweit wirksam und anerkannt. Man muß nicht anthroposophisch inspiriert sein, um dieser ganz eigenen Schulart Respekt zu zollen.

Allerdings läßt sich die beeindruckende Bilanz ohne das Wirken Rudolf Steiners und dessen Anthroposophie nicht denken. Was die Waldorfpädagogik in ihrem Wesen kennzeichnet, versteht in Genauigkeit und Tiefe nur, wer anthroposophisch durchdrungen ist. Insofern eignet ihr eine Hermetik, in die zu gelangen man entweder Waldorf-Schüler oder Kenner der Steinerschen Gedankenwelt sein muß. Man darf das durchaus als Erkenntnis-, ja als Einweihungsweg auffassen. Esoterik läßt sich aus dem Griechischen her als „innerlich“, „dem inneren Bereich zugehörig“ auffassen, mithin als „Geheimlehre“. 

Diesen Begriff verwendet Steiner selbst, nur ist er davon überzeugt, daß der Aufgeschlossene einen Zugang dazu finden kann. Hatte der Mensch der Frühzeit noch selbstverständlich Fühlung zu geistigen Welten, ging dies in der Moderne verloren, aber gerade das Zeitalter der „Bewußtseinsseele“, so Steiner, ermögliche einen neuen Zugang, mit den Mitteln der „Geisteswissenschaft“, die sich wörtlich als Wissenschaft vom Geist versteht. So findet der Mensch auf neue, durchaus moderne Weise zurück, was er verlor. Zwar vermitteln die Waldorfschulen nicht explizit Anthroposophie, sie missionieren also nicht, aber sie üben ins Geistige praktisch ein, offenbar auf segensreiche Weise.

Ein Ausdruck der bunten Lebensreform-Bestrebungen

Die meisten gängigen Klischees sind Unfug: Daß ein Schüler, Buchstaben eurhythmisch nachbildend, seinen Namen tanzen kann, ist dem Waldorfunterricht oder der Eurythmie kein zentrales Anliegen; und noch viel weniger kann gelten, daß die Rudolf-Steiner-Schulen einem antiautoritären Erziehungsprinzip folgen, das namentlich von links als das reformpädagogische Attribut schlechthin aufgefaßt wurde. Ganz im Gegenteil, in den Klassen eins bis acht wird durch einen Klassenlehrer, der zudem alle Hauptfächer unterrichtet, deutlich und charismatisch geführt. Ihm obliegt eine enorme Verantwortung, um das Prinzip Autorität und Nachfolge zu gestalten. Schon das mag Teil des Erfolges sein. Vermutlich gar stellt die Waldorf-schule – abgesehen von der Jenaplan-Pädagogik Peter Petersens und von den Montessori-Schulen – die eigentliche Alternative und die am deutlichsten von den Staatschulen zu unterscheidende Schulform dar.

Selbstverständlich gibt es dort wie überall Probleme und Konflikte. Man findet im Netz kritische Foren, man findet ein „Schwarzbuch Waldorf“, man weiß von Schülern und Eltern, deren Erwartungen nicht erfüllt wurden. Dies aber auch, weil eben viel und mehr erwartet wurde als von der staatlichen Schule. Der Erfolg und die Anerkennung, national und international, überwiegen. Es gibt gegenwärtig 1.149 Waldorfschulen weltweit, 779 davon in Europa und 245 in Deutschland. Vieles, was sich heute sehr innovativ als reformpädagogische Neuerung an staatlichen Schulen präsentieren möchte, geht auf die Waldorfschulen zurück, wirkt aber nur dort lebendig, wo es herkommt. So etwa der Epochenunterricht, Portfolio-Arbeit, die Rhythmisierungen und Ritualisierungen des Schullebens und künstlerisch-kreative Projekte. Es fruchtet am besten in der Waldorfschule selbst, weil sich nur dort alle Bestandteile sinnfällig verbinden.

Man kann die Waldorfpädagogik als einen Ausdruck der vielgestaltig breiten und bunten Lebensreform-Bestrebungen um 1900 auffassen, die ihren Ausgang in einer janusköpfigen Epoche nahm – zum einen, ideellen Stillstand beklagend, gefangen von Weltende-Stimmung, zum anderen bestimmt von Erlösungseuphorie. Edvard Munchs „Der Schrei“ einerseits, erotische Schönheiten des Jugendstils andererseits. Der Erfolg von Wirtschaft, Technik, Wissenschaft begeisterte, aber er erfüllte nicht die metaphysische Sehnsucht; man war im Aufbruch, ersehnte neue Wege, transzendierte, suchte die Ursprünge, also das Geistige und die Natur – und das eine davon im anderen. Die Künste ersannen neue Blickwinkel und Stilrichtungen, Literatur und Malerei forcierten die Expressivität zum Expressionismus. Andere erträumten das Surreale.

Steiners Anthroposophie bleibt eine ständige Quelle

Theodor Ziegler schrieb dazu 1911: „So war es eine Welt voll Gegensätze, dieses ‘Fin de siècle’, in der alles chaotisch durcheinanderquirlte und wogte, Karneval und Aschermittwoch zugleich, kraftvoll aufstrebende Renaissance und pessimistisch müde Dekadence; eine Zeit der ‘Ruhelosigkeit und Reizbedürftigkeit’, des sich Verlierens an das Zerstreuende der Außenwelt und des sich Sehnens nach Wiedergewinnung eines Innerlichen und Einheitlichen. Und die Menschen dieser Zeit auf der einen Seite voll Überschätzung des Intellektuellen, von des Gedankens Blässe von der frühen Jugend auf angekränkelt und deshalb in ihrer Nervosität von unausgesprochenem und unaussprechlichen Stimmungen bewegt und daneben doch praktisch, utilitaristisch, voll Willen und Streben nach Macht; pessimistisch und blasiert, tief innerlich müde auf der einen Seite und auf der anderen vom Willen zum Leben, von Lebensdrang und Lebensfreudigkeit emporgerissen und emporgepeitscht, tatkräftig vorwärts, ehrgeizig aufwärts strebend; frei von Vorurteilen, ungläubig und kritisch, kühl bis ans Herz hinan, und daneben ergriffen von allerlei Mystik oder doch anempfinderisch damit spielend, voll Neugier für alles Rätselhafte und Geheimnisvolle, für alles Tiefe und Hinterweltliche und die Wissenschaft selbst in den Dienst des Aberglaubens herabziehend oder gar diesen in die Form okkultistischer Wissenschaft kleidend.“

Als bedeutendste Kraft dieses Reformzeitalters kann die Jugendbewegung mit ihren zahlreichen Bünden und Ausrichtungen gelten. Sie folgte dem Bedürfnis, sich aus der Enge von erwachsener Vormundschaft und Schule zu befreien. „Jugend führt Jugend!“, wurde zu ihrem Motto. Hinaus ins Freie, ins Licht, in die Natur, auf Fahrt gehen, das Elementare spüren und damit endlich wieder auch sich selbst, sich in neuen, echten Herausforderungen bewähren und dabei eigene Tugenden entwickeln. 

Rudolf Steiner, selbst ambivalenter Geist, war Zeitgenosse dieser bewegten Jahrzehnte, inspiriert von Schopenhauer und Nietzsche einerseits, befaßt mit dem Darwinisten Haeckel, andererseits Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, erst mathematisch-naturwissenschaftlich und atheistisch orientiert, dann aber Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft Helena Blavatskys, bis er sich emanzipierte und die Anthroposophie begründete.

Viele Neuorientierungen dieser kulturerfrischenden Lebensreform- und Jugendbewegung wurden durch den Ersten Weltkrieg so erschüttert, daß ihre weitere Entwicklung stockte oder abbrach; die Geschichte der Waldorfschulen jedoch beginnt erst mit dem 7. September 1919, als Emil Molt, der Direktor der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Rudolf Steiner um eine Schulgründung bittet. Damit entsteht die erste Einheits- und Gesamtschule in Deutschland, die von Anfang an koedukativen Unterricht ermöglicht. Eine echte Bildungsrevolution. 

Steiner beriet die Lehrer persönlich und stand gewissermaßen der Schule als geistiger Leiter vor. Die in Buchform vollständig vorliegenden Protokolle der Lehrerkonferenzen, auf denen er sich den mutigen, aber doch skeptischen Lehrern in seinem Ziel und Anliegen erklärte, sind eine exzellente Einführung in die Waldorfpädagogik überhaupt. Nebenbei wird klar: Steiner selbst gerierte sich nie als Guru; ohne äußere Eitelkeit wirkte er selbstlos und sich gesundheitlich verschleißend an dem, was er als richtig erkannt meinte. 

Aber selbst wenn man vom spirituell-esoterischen Hintergrund dieser Schulgründung absieht und ebenso das dafür maßgebende Erbe des deutschen Idealismus, die Weltanschauung Goethes, die Gnosis, die christlichen und Rosenkreuzer-Mystik sowie Anleihen fernöstlicher Lehre ignoriert, wird man beachtlich finden, daß an dieser damals neuen Schule einerseits alle gleichberechtigt miteinander beschult wurden, sich anderseits aber als hochindividuelle Kinderseelen aufgefaßt fanden, die zur Entfaltung gebracht werden wollen. Inklusion, heute eine politische Inszenierung mit Gerechtigkeitsrhetorik, war an Waldorfschulen selbstverständlich. Die „Erziehungskunst“ Steiners folgt den höchsten Ansprüchen, indem sie die Heranwachsenden eben nicht pragmatisch nach den Bedürfnissen der industriellen Leistungsgesellschaft abrichtet und vermißt, sondern sie als geistige Wesen betrachtet, die der Lehrer erst aufmerksam erkennen sollte, bevor er sie bildet und erzieht: „Das Lesen im Wesen des Kindes ersetzt das Lesen eines Lehrplans.“

Die Anthroposophie Rudolf Steiners zu verstehen bedarf eines genauen Studiums seiner Gedanken und Schriften. Bei den 354 Bänden der Gesamtausgabe, darin knapp sechstausend Vortragsmitschriften und über tausend Wandtafelzeichnungen, stellt das freilich eine Lebensaufgabe dar, so man in der säkularisierten Gegenwart überhaupt Zugang zu diesem Kosmos finden möchte. Aber selbst wenn man diesen veritablen Einweihungsweg nicht beschreitet, wird an Waldorfschulen im Idealfall von geistigen Grundlagen ein komplexes sinnreiches Ganzes ausbildet. Genau das macht den entscheidenden Unterschied aus zu den hektischen Reformen und Improvisationen im staatlichen Bildungssystem, die nervös wechselnden politischen Motiven und zunehmend einer neuen Ideologisierung der Schule folgen. Im wohltuenden Gegensatz dazu blieb sich die Waldorfschule treu und schöpfte weiter ruhig aus ihrer Quelle, der Steinerschen Anthroposophie.

Aus dem Geistigen heraus in das Natürliche hinein

Sie modernisierte sich durchaus, dies aber behutsam, und sie hielt konsequent an dem fest, was sich in ihrer mittlerweile hundertjährigen Geschichte bewährte. Obwohl einerseits kaum vorstellbar ist, daß eine ausnehmend esoterische Konzeption, würde sie heute den Kultusbürokraten eingereicht, je auf eine Zulassung hoffen dürfte, erscheint andererseits das eher stille und etwas abseitige Wirken dieser sehr eigenwilligen Schulen als wertvolle Bereicherung im deutschen Bildungseinerlei. 

Wenn Rainer Werner Fassbinder und Ferdinand Porsche Waldorf-Schüler waren und Matthias Sammer und Clint Eastwood ihre Kinder auf eine solche Schule schickten, dann beweist das freilich gar nichts, aber man darf schon erwarten, daß diese Schule Freigeister entläßt, die neben ihrem Wissen prägende Erfahrungen im Gartenbau, im Schreinern, Spinnen, Schneidern, beim Feldmessen und in der Hauswirtschaft erwarben, die ihr Selbstvertrauen und ihre Sprache im Theaterspiel entwickelten, die besten ihrer Lehrer als engagierte Idealisten und Enthusiasten erlebten und die vor allem nicht von Quantifizierungen gehetzt wurden, sondern in den Genuß von Muße kamen. In guter Obhut, geschützt vor medialen Reizüberflutungen, ausgestattet mit dem, was man früher Herzensbildung nannte.

Waldorfschulen sind in besonderer Weise ein Versuch, den „sozialen Organismus“ in einer Dreigliederung aufzufassen, wobei die Bereiche Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben nicht zentral bestimmt, sondern als grundsätzlich voneinander geschieden vorgestellt werden. Sie gelten zwar als gleichrangig, dabei jedoch als wesensverschieden, wobei ihnen jeweils Ideale der Französischen Revolution zugeordnet werden – dem Geistesleben die Freiheit, dem Rechtsleben die Gleichheit und dem Wirtschaftsleben die Brüderlichkeit. Das wirkt utopisch, man kann es zynisch als naiv empfinden, aber an der Waldorfschule selbst wird genau das praktiziert; jede dieser jeweils selbständigen „Freien Waldorfschulen“ pflegt die Freiheit des Geistes, sie wird kollegial selbstverwaltet, und ein Geschäftsführer verantwortet aufmerksam das Finanzielle.

Die anthroposophische Auffassung spiegelt diese Einheit gleichfalls in Betrachtung des Menschen wider, insofern der nicht allein als physischer Leib existiert, sondern durch seinen Ätherleib gebildet und geformt wird, vom Astralleib beseelt erscheint und mit seinem Ich über einen unsterblichen geistigen Kern verfügt, der ihn mit dem Höheren verbindet und sich aus dem Geistigen heraus in das Natürliche hinein reinkarniert.