© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 37/19 / 06. September 2019

Das heimliche Europa des Geistes
Eine Neuauflage erlaubt den Blick auf das Wesen Europas des 2011 verstorbenen Essayisten Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Georg Alois Oblinger

Die Brexit-Debatte und die Zunahme EU-kritischer Stimmen haben in den vergangenen Jahren zu einer erneuten Diskussion der Frage geführt, was eigentlich das Wesen Europas ausmache. Konservative Denker haben immer schon darauf hingewiesen, daß es hier um mehr als politische Feilschereien gehen muß. 

Was eint die so verschiedenen Nationen dieses Kontinents? Der konservative Denker und Ideenhistoriker Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der in den siebziger und achtziger Jahren in mehreren Büchern das Wesen des Konservatismus beschrieb, hat sich dann in zahlreichen Personen- und Landschaftsporträts mit Europa beschäftigt, genauer gesagt mit dem „heimlichen Europa des Geistes“. In den Jahren 1981 bis 1985 erschien sein dreibändiges Werk „Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden“ und anschließend von 1987 bis 1992 die Trilogie „Vom Geist Europas“. Die sechs Bände beinhalten insgesamt 261 Essays von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der 1985 als erster mit dem Balthasar-Gracian-Kulturpreis ausgezeichnet wurde und 1986 für sein essayistisches Werk den Konrad-Adenauer-Preis für Literatur erhielt.

Antikes Griechenland und Rom plus christliches Erbe

Nun hat Magdalena S. Gmehling, eine der wenigen Personen, die in den letzten Lebensjahren mit dem inzwischen fast eremitisch am Fuße des Schwarzwalds lebenden Kaltenbrunner in Kontakt standen, eine Blütenlese von 53 ausgewählten Essays erstellt, die der österreichische Ares-Verlag in zwei Bänden vorlegt. Neben der erneut sich stellenden Frage nach dem Wesen Europas tritt ein weiteres Argument für die Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt: Der 2011 im Alter von nur 72 Jahren viel zu früh verstorbene Ideenhistoriker hätte 2019 sein 80. Lebensjahr vollendet. Auch sind seine Bücher heute selbst antiquarisch nur noch schwer zu bekommen.

In seiner Dankesrede bei der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises sagte Kaltenbrunner: „Für den Essayisten gibt es ein Zwiegespräch mit den Toten. Die meisten, im Grunde sogar alle meiner Essays verdanken sich diesem Dialog.“ So hat er ein geradezu „persönliches Verhältnis“ zu den porträtierten Schriftstellern und Denkern aufgebaut, wie bereits Caspar von Schrenck-Notzing einmal betonte. Ausgehend von dem Gedanken, daß das Leben eines Individuums nicht ausreicht, um die zum Leben notwendigen Einsichten und Haltungen selbst zu erwerben, entfaltet Kaltenbrunner in seinen Essays eine vielgliedrige Seelenlandschaft, welche die religiösen, mythischen, philosophischen und kulturellen Lebensäußerungen zweier Jahrtausende dem Menschen von heute nahebringt. 

Er spannt dabei ein weites Panorama von vorchristlichen Denkern wie Pythagoras, Sokrates, Hesiod, Platon, Vergil und Ovid über Schriftsteller wie Brentano, Schelling, Herder, Eichendorff und Stifter, Heiligen wie Augustinus und Katharina von Siena, aber auch Atheisten wie Pareto und Cioran bis hin zum antimodernistischen Einzelgänger Nicolás Gómez Dávila, der zwar Kolumbianer war, jedoch von seiner Geistesart und Haltung her als Alteuropäer gesehen werden muß.

Drei Säulen Europas werden inmitten der vielschichtigen Porträts immer wieder sichtbar: das griechische Denken, der römische Realismus und das christliche Erbe. Der belesene Kaltenbrunner, der in seiner Jugend Jura studiert hat und in fortgeschrittenem Alter nach seinem Bekehrungserlebnis sich ganz dem traditionellen katholischen Glauben zuwandte, verkörpert auch in seiner Person diese drei Säulen. Nachdem er in seinen letzten Lebensjahren publizistisch verstummte, betonte er auf Nachfrage stets, er habe über alle Themen geschrieben. „Alles, was man von mir wissen muß, steht in meinen Büchern.“

Gerd-Klaus Kaltenbrunner selbst bezeichnete seine Beiträge, die das Wesen Europas zu fassen versuchen, als „biographische, ideengeschichtliche, und kulturphysiognomische Essays“. Der Debatte um Europa tut diese Stimme jenseits tagespolitischer Wortmeldungen ausgesprochen gut, nähert sie sich doch dem Kern der europäischen Frage. Auch ist es ein kultureller Gewinn, wenn die Texte Kaltenbrunners wieder gedruckt und gelesen werden. Lohnen würde es sich auch, eine Auswahl von Kaltenbrunners zeitlos-geistreichen Artikeln, die er in der FAZ, in der Welt, im Rheinischen Merkur, in der Zeitbühne, in MUT, in der Epoche oder in Criticón veröffentlichte, erstmals in Buchform dem Leser zugänglich zu machen.

Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Vom Geist Europas. Ursprünge und Porträts, Ares Verlag, Graz 2019, gebunden, Band I: 384 Seiten, Band II: 383 Seiten, jeweils 29,90 Euro