© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Mehr Bürgerlichkeit wagen!
Allein aus Machtpolitik wird die Existenz von Gemeinsamkeiten zwischen FDP, Union und AfD geleugnet
Christian Vollradt

Leitartikeldeutschland hat eine neue Debatte: Was ist – und was oder besser: wer ist nicht bürgerlich? Zwei Stufen brauchte es zur Zündung. Aufreger Nummer eins war die bemitleidenswerte MDR-Moderatorin Wiebke Binder, die am Wahlabend in Dresden doch tatsächlich ein mögliches Bündnis aus AfD und CDU als „bürgerliche Koalition“ bezeichnet hatte. Pfui, hallte es aus den Echokammern der etablierten Parteien und der Medien; der Chefredakteur des Senders entschuldigte sich umgehend für den „Versprecher“ seiner Mitarbeiterin.

Aufreger Nummer zwei war kein Lapsus, sondern ganz bewußt gesetzt. AfD-Chef Alexander Gauland hatte nach den Erfolgen seiner Partei bei den jüngsten Wahlen in Sachsen und Brandenburg davon gesprochen, es gebe in beiden Ländern „bürgerliche Mehrheiten“. Theoretisch jedenfalls. Denn bei der Regierungsbildung werden diese Mehrheiten nicht berücksichtigt, da die CDU eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der AfD ablehnt.

Die Empörung war nicht minder groß. Nein, so der Tenor, die „Rechtspopulisten“ seien eben keine bürgerliche Partei, sie betrieben bloß Mimikry. Der Begriff bürgerlich dürfe nicht „kampflos preisgegeben“ werden, kathederte Nils Minkmar im Spiegel. Sachlichkeit und Mäßigung seien Wesensmerkmale des Bürgerlichen, die AfD betreibe das Gegenteil. Amen.

Woher rührt dann ausgerechnet auf der Linken das Interesse, den einst so verpönten Begriff bürgerlich vor seiner angeblich drohenden  Verunreinigung zu bewahren? War man da nicht schon viel weiter? Ging es nicht – etwa zehn Jahre ist das her – darum, ihn ganz zu entsorgen? Als um das Jahr 2009 herum vor allem Politiker von CSU und FDP ein „bürgerliches Lager“ im Munde führten – in Abgrenzung von Rot-Grün sowie in Abwehr schwarz-grüner Planspiele, entgegnete der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck: Wenn er das Gerede vom sogenannten bürgerlichen Lager höre, frage er sich: Was bin denn ich für einer? Ein Ausgebürgerter? Ein Unbürger?

Seine rhetorische Frage zielte darauf ab, den „Kampfbegriff“ aufs Altenteil zu schicken. War nicht die SPD längst von einer Arbeiter- zu einer Beamtenpartei gewordern? Und haben nicht die Grünen das Bürgerschreck-Gehabe zugunsten des „Bionade-Bürgerlichen“ abgelegt? Es gab in jener Zeit mediale Schützenhilfe. Politiker und Journalisten sollten „aufhören, von den bürgerlichen Parteien und vom bürgerlichen Lager zu reden“, forderte zum Beispiel der frühere Stern-Korrespondent Peter Pragal. Der Begriff stehe „für Ausgrenzung, für Ideologie und für Überheblichkeit. Er diffamiert politische Mitbewerber. Und er wird der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht.“ Nun aber soll es ausgerechnet die „auf Ausgrenzung“ zielende Sprache der AfD sein, die dazu führt, „daß die Partei nicht zum bürgerlichen Spektrum zählt“, wie der Germanist Heinrich Detering gegenüber dem Evangelischen Pressedienst dekretierte. Ja, was denn nun? Ist bürgerlich ausgrenzend? Oder ist es unbürgerlich, auszugrenzen? Nun, die Masche kommt einem durchaus bekannt vor: Die Öffnung oder Grenzverschiebung nach links ist erwünscht, nach rechts gilt sie per se als Übel. 

Es gibt für die politischen Mitbewerber auch recht banale Gründe, warum man der AfD nicht unwidersprochen durchgehen läßt, sich als Teil des bürgerlichen Spektrums zu verstehen. Das „Wir Demokraten gegen die Rechtspopulisten“-Zusammenhalts-Tremolo erspart etwa der CDU, nach jeder Wahl ihren Anhängern und Mitgliedern gegenüber inhaltlich zu begründen, warum eine Zusammenarbeit ausgerechnet mit der Partei von vornherein ausscheidet, mit der man nachweislich die meisten programmatischen Übereinstimmungen hat. Die Christdemokraten, für die das (Mit-)regieren oberstes Ziel ist, befinden sich in einem Dilemma: Jedesmal machen sie eine Politik, die stets deutlich linker ist als die, für die sie gewählt wurden. Wer sein Kreuzchen ans hohe C setzt, um beispielsweise für die versprochenen Polizisten oder gesenkte Steuern oder verkürzte Asylverfahren zu votieren, bekommt wegen koalitionärer Kompromisse – nur so als Phantasie – mehr Gleichstellungsbeauftragte, eine CO2-Abgabe und eine Härtefallkommission. Voilà. 

Es ist wie mit Ravioli aus der Dose. Die sehen nach dem Erhitzen auch nie so appetitlich aus wie auf dem Etikett. Bloß daß hier der Hinweis „Serviervorschlag“ den Kunden vor Enttäuschungen bewahren soll. Diese Kennzeichnungspflicht fehlt in der Politik. Leider. 

Ein handfestes machtpolitisches Interesse daran, die Existenz eines bürgerlichen Lagers von FDP, Union samt AfD zu leugnen, haben natürlich ebenso die Grünen. Sie sind in der komfortablen Lage, sich entweder ins linke (mit SPD und Linkspartei) oder bürgerliche Lager (mit Union plus bei Bedarf FDP) schlagen zu können – von einem Sowohl-Als-auch à la „Kenia“ ganz zu schweigen. Ihren Preis können sie allein dadurch in die Höhe treiben, daß den Christdemokraten die Alternativen ausgehen, solange es für Zweierbündnisse mit den Liberalen und sogar mit den Sozialdemokraten nicht mehr reicht und der Bannstrahl gegen die blaue Partei weiter wirkt.

Deren Spitzen-Mann mit dem Hunde-Binder wäre indes nicht so politisch ausgefuchst wie er ist, wenn es ihm allein um die Provokation des Gegners gegangen wäre. Gaulands Satz: „Wir sind eine bürgerliche Partei“, impliziert eine unausgesprochene appellative Fortsetzung in die eigenen Reihen hinein: „… darum müssen wir uns auch wie eine bürgerliche Partei benehmen!“ Nicht im Sinne inhaltlicher Anpassung an andere, sondern eigener Disziplinierung. Wenn das „Gärige“ dermaleinst nicht mehr schulterzuckend hingenommen oder gar stolz-rabaukig zelebriert, sondern als ein dringend abzustellender Mißstand wahrgenommen wird, dann müssen sich die Leitartikler wohl ein neues Thema suchen.