© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Der Druck steigt
Asyl: Deutschland könnte in Kürze eine neue Flüchtlingswelle bevorstehen
Peter Möller

In der vergangenen Woche brachte das ZDF-Dokudrama „Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge“ die Flüchtlingskrise 2015 vielen zurück ins Gedächtnis. Dabei gewann die zur Heldenverehrung geratene Darstellung der Ereignisse von vor vier Jahren eine unerwartete Aktualität. Denn die Anzeichen, daß Europa und damit vor allem Deutschland eine neue Flüchtlingswelle bevorstehen könnte, mehren sich. In den vergangenen Wochen ist die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland gekommen sind, deutlich angestiegen (siehe Seite 12). Allein im August setzten nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR 8.103 Menschen aus der Türkei zu den griechischen Ägäis-Inseln über und damit deutlich mehr als in den Monaten zuvor.

In Berlin steht das Thema daher spätestens seit der vergangenen Woche wieder auf der Tagesordnung. „Wir verfolgen die Entwicklung auf den griechischen Inseln sehr aufmerksam. Der jüngste Anstieg der Ankunftszahlen ist ernst zu nehmen“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Martina Fietz am vergangenen Freitag mit Blick auf die wachsenden Flüchtlingszahlen in Griechenland. Zugleich verwies sie allerdings darauf, daß die Zahl der Flüchtlinge, die derzeit in Griechenland ankommen, immer noch deutlich niedriger sei als vor dem von der EU mit der Türkei im März 2016 geschlossenen Flüchtlings-Abkommen. Dieses sieht vor, daß die EU alle Ausländer, die illegal auf die griechischen Inseln übersetzen und die in Griechenland kein Asyl bekommen, in die Türkei zurückschicken darf. Die EU hat sich im Gegenzug verpflichtet, für jeden in die Türkei zurückgeschickten Syrer einen anderen Syrer, der sich in der Türkei aufhält, legal aufzunehmen.

Doch insbesondere bei der Rückführung illegaler Flüchtlinge hakt es bereits seit längeren. Ein Sprecher des Bundes-innenministeriums sagte der Welt am Sonntag, es bestehe „Verbesserungsbedarf insbesondere bei Rückführungen in die Türkei, um die schwierige Lage auf den griechischen Inseln zu verbessern“. Denn in Berlin ist klar, daß sich der wachsende Migrationsdruck in Griechenland eher früher als später auch in anderen Staaten der ehemaligen Balkanroute und schließlich auch in Deutschland bemerkbar machen wird. 

„Aufgrund des wachsenden Migrationsdrucks in Griechenland ist davon auszugehen, daß illegale Migration, insbesondere über die Staaten der Balkanregion, anhalten wird“, sagte der Sprecher des Innenministeriums. Davon ist auch der Luftweg betroffen. Allein im Juli habe die griechische Polizei nach Beratung mit der Bundespolizei in 837 Fällen Reisen nach Deutschland untersagt, wegen gefälschter oder falscher Papiere.

„Die Flüchtlingskrise        ist nicht zu Ende“

Sorge bereitet der Bundesregierung auch, daß längst nicht mehr die meisten Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, Syrer sind. Bereits im April hatte eine Statistik des UNHCR für Aufsehen gesorgt: Demnach waren in den ersten drei Monaten des Jahre 8.604 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, davon knapp 5.500 auf dem Seeweg. Von ihnen stammten 11,6 Prozent aus Syrien. Doch fast die Hälfte (47,1 Prozent) stammte aus Afghanistan und ist somit nicht vom EU-Türkei-Abkommen erfaßt. Als die Vereinbarung 2016 geschlossen wurde, sah das Verhältnis noch ganz anders aus: Von den 173.000 Flüchtlingen, die Griechenland damals über den Seeweg erreichten, stammten 47 Prozent aus Syrien, 24 Prozent aus Afghanistan.

Das Auswärtige Amt forderte daher bereits Anfang des Jahres, Deutschland müsse Griechenland unbedingt helfen, Afghanen zurückzuführen. Und präsentierte eindeutige Zahlen: Demnach habe sich die Zahl der von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeführten Flüchtlinge 2018 auf „nur noch 322 Personen“ halbiert. Das entsprach einem Prozent der Ankünfte. Schon damals waren die Experten des Auswärtigen Amtes der Ansicht, es werde „absehbar auch 2019 nicht gelingen, die Rückführungsquote erheblich zu steigern“. Und sie nannten als Grund unter anderem den „stark gesunkenen Anteil“ syrischer Flüchtlinge. Zudem verwiesen sie auf den hohen Anteil von Afghanen sowie auf Flüchtlinge aus den palästinensischen Autonomiegebieten und aus dem Irak, die „alle über eine hohe Schutzquote“ verfügten und „deshalb nur zu einem sehr geringen Anteil“ in die Türkei zurückgeführt werden könnten.

Doch nicht nur die Lage in Griechenland, sondern auch die Lage im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina an der Grenze zu Kroatien bereitet den Verantwortlichen in Berlin Kopfzerbrechen. Täglich kommen hier neue Flüchtlinge aus Pakistan, Afghanistan, Syrien und Nordafrika in der Hoffnung an, von dort in die EU zu gelangen. Denn seitdem Italien seine Häfen für Flüchtlinge praktisch geschlossen hat, erwacht die Balkanroute zu neuem Leben. Wer über das entsprechende Geld verfügt, wird von Schleppern trotz erschwerter Bedingungen immer noch Richtung Norden gebracht.

Der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, warnte Anfang der Woche daher bereits vor den möglichen Auswirkungen der Entwicklung: „Die wachsende Zahl von Flüchtlingen, die über die Türkei nach Griechenland und damit in die EU kommen, zeigt, wovor wir immer gewarnt haben: die Flüchtlingskrise ist nicht zu Ende, uns droht eine Neuauflage der Flüchtlingsströme über die Balkanroute.“ Es sei klar, wohin die allermeisten Menschen wollten, die jetzt nach Griechenland kommen: nach Deutschland.