© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Den fünften Gang eingelegt
Ukraine: Der neue Präsident will seine Versprechen schnell einlösen
Paul Leonhard

Freudig empfing der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die 35 freigelassenen ukrainischen Gefangene auf dem Kiewer Flughafen Boryspil – unter ihnen elf Polithäftlinge sowie 24 Marinesoldaten, die im November 2014 von Rußland in der Straße von Kertsch gefangengenommen worden waren. Die Vereinbarung zum Gefangegenaustausch mit dem russischen Staatschef Putin sei nun umgesetzt, erklärte Selenskyj laut der Nachrichtenagentur Ukrinform. Sowohl er als auch Präsident Wladimir Putin hätten alles genauso gemacht, wie sie es bei dem Gespräch am 7. August vereinbart hätten. 

Ein erster Punktsieg für den im Mai zum Präsidenten der Ukraine gewählten 41jährigen. Hatte er doch im Wahlkampf versprochen, den bewaffneten Konflikt zwischen Regierungssoldaten und prorussischen Separatisten zu beenden, der bisher rund 13.000 Menschen das Leben gekostet hat. Doch der Weg ist noch weit.

Immer wieder werden Armeestellungen und Ortschaften im Osten der Ukraine mit Granatwerfern und schweren Maschinengewehren beschossen. Allein am 2. September meldete Kiew 15 Angriffe russischer Separatisten. Selbst durch die Minsker Vereinbarungen eigentlich verbotene 120-mm- und 82-mm-Mörser werden eingesetzt. Meldungen wie diese gehören zum Alltag in der Ostukraine. Ein Soldat sei getötet, ein weiterer verletzt worden.

Die Immunitätsgarantie für Parlamentarier ist passé

Parallel dazu nahm in Kiew Präsident Wolodimir Selenskyj an der Sitzung der Werchowna Rada teil. Die Abgeordneten wollen zwei Gesetze verabschieden und sieben Vorlagen zur Verfassungsänderung diskutieren. Gleichzeitig skizziert Ministerpräsident Alexej Gontscharuk die wichtigsten Pläne der Regierung für die erste Septemberhälfte: Vorbereitung eines Treffens mit Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF), Gespräche zum Gastransit, zum Staatshaushalt 2020, Weichenstellungen für eine Reform der Verwaltung des Staatseigentums und die Vorbereitung auf eine große Privatisierung, die noch in diesem Jahr beginnen und in etwa fünf Jahren abgeschlossen sein soll. Aus dem Verkauf der Staatsbetriebe erhofft sich der ukrainische Staat Einnahmen von 17,1 Milliarden Griwna (cirka 600 Millionen Euro). 

Die Wahl des ebenfalls politisch unerfahrenen, erst 35jährigen Gontscharuk in der ersten Parlamentssitzung bescherte der Ukraine ihren jüngsten Regierungschef, wie sich überhaupt fast alle maßgeblichen Mitglieder der Regierung – die jüngsten Minister sind 28 und 29 Jahre alt – erst einmal an die neuen Aufgaben und auch die Machtfülle gewöhnen müssen. 

Mit Argwohn wird vor allem in der Opposition, aber auch im Ausland gesehen, daß Selenskyj ihm nahestehende Personen in den wichtigsten Ämtern untergebracht hat. Der Unternehmer Andrej Sagorodnjuk wurde auf seinen Wunsch hin Verteidigungsminister, der Karrierediplomat Wadim Pristaiko Außenminister: „Ich bin überzeugt, daß das Land jetzt endlich den fünften Gang einlegen und sich sicher auf dem Weg der Veränderungen bewegen kann.“

In seiner Antrittsrede versprach Gontscharuk, ein Wirtschaftswachstum von fünf bis sieben Prozent für das verarmte Land anzustreben. Sollte er das schaffen, dürfte er allerdings ein anderes Problem bekommen, denn dann muß die Ukraine aufgenommene Kredite zurückzahlen. 

Daß die ukrainische Wirtschaft im zweiten Quartal einen Zuwachs von 4,6 Prozent verzeichnen konnte, wird weniger der guten Ernte und den Überweisungen von Emigranten zugerechnet als dem plötzlichen Optimismus nach dem überwältigenden Sieg des beliebten Fernsehstars Selenskyj. Bei der Umgestaltung des Landes legt er mit den Abgeordneten seiner Partei „Diener des Volkes“, die über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt, den fünften Gang ein.

So wurde eine aus der Ära Petro Poroschenkos stammende Immunitätsgarantie für Parlamentarier kassiert. Die Verfassungsänderung wird am 1. Januar 2020 in Kraft treten. Selinskyj kündigte wöchentliche Entlassungen von „unwürdigen“ höheren Richtern an. Zu den ersten Opfern gehörten 22 der 24 Chefs der Regionalverwaltungen und der stellvertretende Generalstaatsanwalt Anatolij Matios. Zudem wurde das für Wirtschaftskriminalität zuständige Polizeireferat aufgelöst, um es zu reorganisieren.