© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

„Die Türen öffnen“
Türkei: Ankara droht, entweder neue Gelder der EU oder die Migranten kommen nach Europa
Curd-Torsten Weick

Unmißverständlich stellte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay klar: Die Warnung der Türkei, den Flüchtlingen in der Türkei die Tore nach Europa zu öffnen, war „weder eine Bedrohung noch ein Bluff“. Das sei Realität, betonte der AKP-Politiker am vergangenen Freitag. Tags zuvor hatte Präsident Recep T. Erdogan bereits davor gewarnt, daß die Türkei „ihre Türen öffnen“ könne, wenn Ankara keine Unterstützung bei der Umsetzung der „Safe Zone“ östlich des Euphrat in Nordsyrien erhalte. „Unser Ziel ist es, daß mindestens eine Million unserer syrischen Brüder in die Sicherheitszone zurückkehren“, erklärte Erdogan. „Gebt uns logistische Unterstützung und wir können in Nordsyrien in 30 Kilometer Tiefe Wohnungen bauen. Entweder das passiert, oder wir müssen die Tore öffnen“, drohte der Präsident der Türkei. 

Parallel dazu beschwert sich Ankara seit langem darüber, daß die Europäische Union ihre Zusagen zum EU-Türkei-Flüchtlingspakt nicht eingehalten habe. Der Pakt verfügt über ein Gesamtbudget von sechs Milliarden Euro (2016 bis Dezember 2019). Laut EU wurden bis  Mitte Juli 2,35 Milliarden Euro ausgezahlt, weitere 3,5 Milliarden vertraglich vereinbart und 5,6 Milliarden bereitgestellt.

Angesichts Ankaras Beschwerden über die Umsetzung des Flüchtlingspakts plädierte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu dafür, den Pakt neu zu diskutieren.





Griechenland unter Druck

Erneut kamen am Montag Hunderte illegale Migranten aus der Türkei auf Lesbos an. Zwischen Mitternacht am Sonntag und 9.30 Uhr am Montag landeten nach Angaben der griechischen Zeitung Kathimerini insgesamt 227 Migranten auf der Insel, weitere 228 erreichten sie am Samstag und Sonntag. Allein am Samstag, so das Blatt, hätten 468 Migranten die Inseln der östlichen Ägäis erreicht – 208 auf Lesbos, 126 auf Chios und 134 auf Samos.  Seit dem 1. September seien insgesamt 2.241 Migranten aus der Türkei auf die Inseln gekommen. 

Schon während Premierminister Kyriakos Mitsotakis am 29. August in Berlin mit Kanzlerin Angela Merkel über Migration – die Zahl der monatlichen Ankünfte nach Griechenland war im August auf rund 7.000 angestiegen – sprach, verließen 500 Migranten auf 15 Booten die türkische Küste und landeten auf Lesbos. Dabei versprach Mitsotakis, daß die Rückführung von Migranten in Richtung der Türkei verbessert und  die Lebensbedingungen in den Lagern verbessert werden müßten. Parallel kritisierte er die mangelnde Solidarität. 

Die Drohungen aus Ankara, die „Tore zu öffnen“, wies der konservative Politiker zurück. Ankara solle bei seinen Versuchen, Unterstützung für einen Plan zur Umsiedlung syrischer Flüchtlinge nach Nordsyrien zu erhalten, nicht versuchen, Griechenland oder Europa unter Druck zu setzen. Der EU-Türkei-Flüchtlingspakt sei für beide Seiten von Vorteil gewesen. Vor diesem Hintergrund könne er nicht ausschließen, daß auf europäischer Ebene mit der Türkei eine Diskussion im Sinne des „guten Willens“ darüber geführt werden könne, wie die Implementierung des Abkommens verbessert werden könne. 

 Auch die EU ist über den verstärkten Zustrom von Migranten besorgt. Brüssel will sich dennoch weiterhin für die Umsetzung des Paktes einsetzen. Doch der türkische Innenminister Suleyman Soylu wies „Behauptungen über die steigende Zahl“ von Migranten aus der Türkei zurück und erklärte: „Wenn die EU sich genauso sehr um die Türkei Sorgen machen würde wie über Griechenland, können die Probleme gelöst werden.“ Während von Januar bis August 2018 30.842 Migranten nach Griechenland gekommen seien, läge die Zahl für 2019 bei 29.025. Ein Rückgang von sechs Prozent, so Soylu. (ctw)





Ankaras umstrittene Bohrungen

Die griechische Wochenzeitung To Vima nahm kein Blatt vor den Mund. Unter dem Titel „Nicht erklärter Krieg“ berichtete sie darüber,  daß griechische Behörden über mögliche „zielgerichtete“ Migrantenströme besorgt seien, die von Ankara „inszeniert“ werden, um bei den „illegalen“ Gasbohrungen in der Ausschließlichen Wirtschaftszone Zyperns (AWZ) Druck auszuüben. 

Nachdem die zyprische Regierung  mit den Firmen Eni, Total und ExxonMobil Verträge über die Förderung von Erdgas in ihren Gewässern innerhalb der AWZ abgeschlossen hat, will auch Ankara ein Stück vom Kuchen. Ankara verlangt, daß die international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern an der Ausbeutung der Gasfelder im östlichen Mittelmeerraum beteiligt wird und entsandte seit diesem Frühjahr drei Bohr- und Forschungsschiffe in die AWZ. Ein weiteres soll folgen.

Im Juli 2019 verhängte der Europäische Rat Strafmaßnahmen gegen die Türkei. Ankara habe trotz wiederholter Aufforderungen, die rechtswidrigen Tätigkeiten im östlichen Mittelmeer einzustellen, seine Bohrungen westlich von Zypern fortgesetzt und nordöstlich von Zypern weitere Bohrungen in zyprischen Hoheitsgewässern eingeleitet. EU-Gelder für die Türkei sollen gekürzt und die Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen eingestellt werden. Die Gasbohrungen der Türkei testen die Glaubwürdigkeit der EU als Hüterin der Energieinteressen ihrer Mitglieder in der Region, erklärte Griechenlands Verteidigungsminister Nikolaos Panagiotopoulos. (ctw)





Erdogans „Safe Zone“-Träume

Vergangenen Sonntag verstärkte Präsident Erdogan den Druck. Wenn die Bildung einer Sicherheitszone (Safe Zone) in Nordsyrien nicht bis Ende September eingeleitet werde, bleibe der Türkei nichts anderes übrig, als sich allein auf den Weg zu machen“, zitiert die Nachrichtenagentur Anadolu den Präsidenten. Zwar hatten sich türkische und US-Militärbeamte am 7. August darauf geeinigt, daß eine geplante Sicherheitszone in Nordsyrien als „Friedenskorridor“ für vertriebene Syrer dienen soll, die nach Hause zurückkehren wollen, doch kommt die Kooperation laut Erdogan nicht voran. Man diskutiere über eine sichere Zone, aber bei jedem Schritt werde deutlich, daß die Wünsche der Türkei nicht mit denen der USA übereinstimme. Ankara will ein Gebiet schaffen, das „gesäubert“ vom IS sowie der „PKK und ihren Erweiterungen PYD-YPG-SDG“, einer Million syrischer Flüchtlinge ein Heim bieten soll. Die Führung Syriens spricht jedoch von einer „eklatanten Verletzung des Völkerrechts und der Souveränität“. Mitte vergangener Woche warnte Erdogan davor, daß die Türkei „ihre Tore öffnen“ und den 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen im Land erlauben könnte, sich in westliche Länder zu begeben, wenn keine Sicherheitszone geschaffen wird und die Türkei allein die Flüchtlingslast tragen müsse. (ctw)