© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Das Abenteuer des Entdeckens
Alexander von Humboldt: Zum 250. Geburtstag des großen deutschen Naturforschers

Günter Zehm

An dem prächtigen Buch von Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“ stört an sich nur der Titel. „Vermessen“ hat die Welt nur eine der beiden in dem Roman auftretenden Hauptfiguren: der Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Alexander von Humboldt, die andere, hat sie „nur“ entdeckt und beschrieben, in der Sprache abgebildet. Sein Ziel war nicht, sie auf Zahlen und abstrakte Formeln zu reduzieren, sondern sie ganz im Gegenteil in all ihrer Vielfalt und Farbigkeit erstrahlen zu lassen, sie gleichsam zu „erzählen“. 

Genau dadurch ist Alexander von Humboldt, 1769 in Berlin geboren, 1859 ebendort verstorben, dessen 250. Geburtstag man am 14. September feiert, berühmt geworden, weltberühmt, und zwar nicht nur bei seinen wissenschaftlichen Kollegen, sondern bei vielen Völkern. Besonders in Süd-amerika, das er von 1799 bis 1804 bereiste, kennt  ihn jedes Kind. Er gilt – zu Recht – als der wahre Entdecker dieses Kontinents, obwohl diesen europäische Eroberer schon Jahrhunderte zuvor besetzt und brutal ausgebeutet hatten. Humboldt seinerseits wollte nicht erobern und versklaven, er wollte vielmehr genau hinsehen und so gut wie möglich davon erzählen.

Er enstammte einer bekannten pommerschen Adelsfamilie, sein Vater war ein preußischer Offizier, der wegen seiner Tapferkeit im Siebenjährigen Krieg vom König zum Kammerherrn der Kronprinzessin ernannt und nach Berlin berufen worden war. Alexanders zwei Jahre älterer Bruder Wilhelm spielte später eine entscheidende Rolle beim Aufbau eines hocheffektiven Bildungssystems; wie er sollte auch Alexander nach dem Willen der Eltern Jura studieren, und wurde 1787 zum entsprechenden Studium an die Universität Frankfurt an der Oder geschickt – doch das Projekt scheiterte schnell.

Alexander interessierte sich von füh auf exklusiv für „Naturobjekte“, für Insekten, Frösche, Lurche, Brennesseln und andere Pflanzen, also für Naturwissenschaft, für die es in Frankfurt gar keine Fakultät gab. Er verließ die Universität und vertraute sich Hauslehrern an, unter ihnen der berühmte Maler Daniel Chodowiecki, der ihn in die Kunst des Radierens und des Kupferstechens einweihte. Die Prominenz der Familie Humboldt, die sich auf einem veritablen Schloß in Tegel etabliert hatte, tat ein übriges.  „Die Brüder Humboldt auf Schloß Tegel“ wurden zu einem Schlüsselwort für eine eigene Berliner „Klassik“ neben der von Weimar, und ihr Ruf breitete sich schnell über das intellektuelle Europa der damaligen Zeit aus.  

Zur Weimarer Klassik der Goethe und Schiller, Wieland und Herder bestanden die besten Beziehungen. Es gibt eine aufschlußreiche Zeichnung von Georg Müller aus dem Jahre 1798, die später als Kupferstich eine Art Ikone des deutschen Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts werden sollte: Goethe und die Brüder Humboldt zu Besuch bei Friedrich Schiller in Jena. Die vier Klassiker sitzen bei gutem Wein, doch offensichtlich nicht ganz so guter Laune, im Garten zusammen und erörtern lebhaft ein kontroverses Thema. 

Geht es etwa um die damals so heiß diskutierte Frage, was nun die Landoberflächen der Erde entscheidender gestaltet habe, die Vulkanausbrüche oder die Kreide-Ablagerungen sich zurückziehender Ozeane? Schiller neigte den Ozeaniern zu, Goethe eher den Vulkanisten. Alexander hätte sich da wohl herausgehalten, er lehnte alle als „alternativlos“ aufgezäumtem Grundaussagen energisch ab, und er wußte: Goethe war nur ein einziges Mal auf dem Vesuv gewesen – für Alexander war das ungenügend. „Selber nachsehen“ war seine unabwendbare Generaldevise von Kindheit an, danach richtete er sein Leben aus. 

Dafür hat der Naturforscher Alexander von Humboldt später die größten Strapazen und Beschwernisse auf sich genommen; seine Mitteilungen aus dem Amazonasbecken und von den Anden zeugen davon höchst eindrucksvoll. Und nirgends gibt es dort auch nur die kleinste Klage darüber; auch fehlt vollständig die anderswo so beliebte Abenteurer-Attitüde, der stolze Hinweis darauf, was man doch für ein rasanter Kerl sei, mit welcher Verve man allen Schwierigkeiten und Zumutungen, auch politischen Zwängen begegnet sei. 

Das Abenteuer lag für Humboldt ausschließlich im Entdecken selbst und im genauen sprachlichen Abbilden des Entdeckten. Wohl aus dieser Seelenlage speisten sich auch seine Leidenschaft für sachliche Dialoge und seine eminente Kommunikationsfähigkeit. Humboldt war ein Meister der Kommunikation noch vor Anbruch des modernen Kommunikationszeitalters mit Elektrizität, Telefon, Internet und digitaler Netzwerktechnik. Seine einzigen Kommunikationsmittel waren das Briefschreiben und das gegenseitige Sich-Besuchen, doch diese Mittel nutzte er so genial, daß er schon vor Antritt seiner spektakulären Südamerikareise 1799 in Europa als willkommener Kommunikationspartner bekannt und anerkannt war und gern um Rat gefragt wurde. 

Sein erster fester Posten bei der preußischen Staatsregierung war der eines Bergassessors für Schieferabbau in der Nähe von Bayreuth. Humboldt nahm die Ernennung zum Anlaß, um gleichzeitig ein Fern- und Nahstudium an der Bergakademie Freiberg in Sachsen aufzunehmen. Sein Alltag aber, ob nun im Fichtelgebirge oder im Erzgebirge, war weniger von Aufenthalten in Büros oder Vorlesungssälen geprägt als von strapaziösen Grubeneinfahrten und Waldgängen. Binnen kurzer Zeit soll es ihm gelungen sein, die bis dahin jämmerlichen Erträge in den preußischen Gruben um ein Vielfaches zu steigern und auch die Arbeitsbedingungen für die Grubenarbeiter erträglicher zu gestalten.

In Freiberg begründete er die Mykologie, die Wissenschaft von den Pilzen. Er durchstöberte die Flechten- und Pilzarten, die er in den Freiberger Bergwerken gefunden hatte, und beschrieb sie mit äußerster Anschaulichkeit: In der  damals auf Latein publizierten Schrift    „Florae Fribergensis specimen“ wimmelt es geradezu von neuentdeckten Pilzen, und es gibt auch schon höchst treffende Einsichten über die komplizierten  unterirdischen Symbiosen zwischen Pilzen, Pflanzen und Tieren, an die erst die allerneueste Biologie wieder anzuknüpfen vermag. 

Ebenfalls schon in der Vor-Amerika-Zeit machte sich Humboldt in der Wissenschaftswelt als raffinierter Chemiker auffällig. So befaßte er sich – ebenfalls aufgrund seiner eigenen praktischen Erfahrungen in den Gruben des Fichtelgebirges und des Erzgebirges – mit der Entstehung von Gasen, Grubengasen, und dem Verhältnis speziell des Kohlenstoffdioxids zum Sauerstoffverbrauch der lebendigen Kreatur. Er beschrieb und kommentierte als erster die jahreszeitliche Variation des Anteils dieses Gases an der Luft und den Effekt, daß eine Erhöhung des Kohlenstoffdioxidgehalts bis zu bestimmten Grenzen die Geschwindigkeit des Pflanzenwachstums fördert. 

Daraus verstetigte sich sein Interesse an der Luft; er erkannte und erzählte die Konstanz der Luftzusammensetzung in unterschiedlichen Höhenlagen und bewies, zusammen mit dem französischen Chemiker und Physiker Joseph Louis Gay-Lussac, mit Hilfe gemeinsam durchgeführter Versuche das Elementarverhältnis von Sauerstoff zu Wasserstoff im Grundwasser verschiedener Länder.

Jedenfalls galt er damals schon als wahrer Tausendsassa der noch neuen Naturwissenschaft und als verläßliche Auskunftsinstanz. Das Autorenkürzel „Humb“, das unter seinen vielen kurzen Essays und Zeitschriftenbeiträgen in deutscher, französischer oder lateinischer Sprache stand, war mindestens so bekannt wie die Ansprachen „Majestät“ oder „Heiliger Vater“. Am 4. August 1800 wurde er – in Abwesenheit, er war ja schon in Amerika – von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften Berlin als außerordentliches Mitglied aufgenommen.

Nach der Rückkehr aus Amerika nach Berlin 1805 wurde er zum königlichen  Kammerherrn ernannt und mit einer stolzen Jahrespension von 2.500 Talern bedacht. Der kurz danach folgende Sieg Napoleons bei Jena und Auerstedt, die totale Niederlage Preußens, hatte indes kaum negative Folgen für Humboldt. Napoleon nahm ihn, wie die Quadriga des Brandenburger Tors, gleichsam als Kriegsbeute und Triumphausweis mit nach Paris, wo er von der dortigen Gelehrtenwelt freudig empfangen und umschmeichelt wurde. Er interessierte sich nicht für „große“ Politik und machtgierige Gleichmacherei. Auch nach der Niederlage Napoleons und während der Metternich-Zeit pendelte der inzwischen zum preußischen Hofrat ernannte Alexander von Humboldt zwischen den beiden sich furios entfaltenden Wissenschaftszentren Paris und Berlin hin und her, ohne sich um nationale Rankünen zu kümmern.

Sein Plan war die Organisation einer zweiten ausgedehnten Forschungs-Expedition, diesmal nach Rußland und Zentralasien. Sowohl die peußische wie die russische Regierung stellten ihm dafür hinreichend finanzielle Mittel zur Verfügung, und im Jahre 1829 war es soweit: „Humb“ brach per Schiff über die Ostsee nach Sankt Petersburg auf, wo ihn zunächst ein feierlicher Empfang beim russischen Zaren Nikolaus erwartete; Humboldt hatte ja auch sechzigsten Geburtstag, er war genau doppelt so alt wie damals, als er über den Atlantik nach Amerika aufgebrochen war.


Fortsetzung auf Seite 15