© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Fortsetzung von Seite 13 zu Alexander von Humboldt
Günter Zehm

Als Begleiter nach Rußland hatte Alexander von Humboldt den Mediziner, Zoologen und Botaniker Christian Gottfried Ehrenberg gewonnen sowie den Chemiker und Mineralogen Gustav Rose; mit beiden war er seit langem durch wissenschaftliche Dialoge eng verbunden. Zur Reisetruppe gehörten des weiteren Humboldts treuer Diener Seifert und ein professioneller Koch, dessen Name leider nicht überliefert ist. Von Sankt Petersburg ging es per Pferdekutsche über Moskau, Kasan und Perm nach Jekaterinburg im Ural und von dort in nordöstlicher Richtung ins wildeste, noch völlig unerforschte Sibirien.

Alle Expeditionsteilnehmer, sogar Seifert, hatten inzwischen die Nase gründlich voll von Tundra und Taiga, wollten umkehren und zurück in bewohnbare Gegenden, einzig Humboldt wollte immer weiter, mit einer südlichen Kehre bis ins Altaigebirge und an die chinesische Grenze. Und er ließ sich auch von der die Reise überwachenden russischen Regierung nicht davon abbringen. „Humb“ zornig in einem seiner knappen Beiträge für die Fachpresse: „Kein Schritt, ohne daß man ganz wie ein Kranker unter der Achsel geführt wird.“

Aus anderen, späteren Beiträgen kann man freilich ersehen: Auch Humboldt spürte, daß er für strapaziöse Feldforschungen in Sibirien zu alt geworden war. Aus den nach der Rußlandreise an sich geplanten Reisen nach Afrika und in die Antarktis wurde nichts mehr. Vielmehr verlegte sich Humboldt nun auf das Schreiben von Büchern, es entstand – im Original auf französisch geschrieben – der umfängliche Erzählband „Ansichten der Kordilleren und Monumente der dort geborenen Völker Amerikas“, der  auch heute noch mit Vergnügen und Gewinn zu lesen ist.

Vor allem aber kamen die fünf Bände des „Kosmos“ und offenbarten, daß Humboldt auch intellektuell an strukturelle Grenzen gestoßen war. Denn dieser „Kosmos“ führt, aus moderner wissenschaftlicher Perspektive betrachtet, regelrecht aus der Wissenschaft hinaus. Man begegnet hier dem völlig ernstgemeinten Versuch, das „Weltganze“ in voller enzyklopädischer Ausdehnung und allein durch die Brille eines einzigen Temperaments zu Papier zu bringen, gewissermaßen von der gelben Post bis zur schwarzen Pest, der Sternenhimmel und die Tiefen des Universums einbegriffen. 

 Ein solcher Plan war schon zur Zeit Humboldts utopisch und antiquiert. Die Welt ist in Raum, Zeit und vertretbaren Denkmöglichkeiten unendlich, das hatten schon die „letzten Universalgenies“ Leonardo da Vinci und Leibniz einsehen müssen, und die ersten Enzyklopädisten und Lexikalisten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert hatten daraus ihre Schlußfolgerungen gezogen. Sie hatten sich dazu entschlossen, die Phänomene nicht in einen einzigen Kontext hineinzuzwingen, sondern ihnen im Lexikon jeweils einzelne Spezialeinträge zu widmen, mit dem ausdrücklichen Bedeuten, daß es sich dabei um vorläufige, ad infinitum fortzuschreibende Einträge handle, keine ewigen Wahrheiten.

Die Rätsel der Welt aufklären

Alexander von Humboldt ging mit seinem „Kosmos“ hinter die Enzyklopädisten zurück, auch wenn er im Untertitel, scheinbar bescheiden, vom „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ sprach. Es war fast eine Tragödie. Er setzte sein gewaltiges Werk von vornherein dem Veralten und Überholtwerden aus, obwohl gerade in der Wissenschaft Veralten und Überholtwerden keinen Rang beanspruchen können. Sie setzen keine Patina an, reifen nicht wie edle Weine, werden statt dessen einfach falsch, putzig in ihren Erklärungen, unbrauchbar in ihren Handlungsanleitungen.

 Alexander von Humboldt, der  Berliner Klassiker aus dem Tegeler Schloß, war – wie einst der junge Jenaer Philosoph und Goethe-Liebling Schelling – davon überzeugt, daß sich die Rätsel dieser Welt allein durch „poetisches“, ebenso farbenreiches wie präzises Sprechen „aufklären“ ließen, und deshalb mußte sein „Kosmos“-Werk scheitern. Es ist  mittlerweile nur noch als Märchen- und Sagenbuch lesbar. 

Sein Autor, der große Naturforscher und Forschungsreisende, ist zu einer historischen Figur geworden, der man sich letztlich nur noch über die schöne Literatur nähern kann, siehe Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“. Seiner Popularität und Beliebtheit hat das allerdings bisher nicht geschadet, wie das gewaltige, auch internationale Echo auf das Erscheinen des Kehlmann-Buches bezeugt. Viele Wissenschaftshistoriker meldeten sich zu Wort, welche  die „Authentizität“ vieler Passagen in dem Roman bezweifelten. Dichterische Freiheit hin und her, hieß es, aber so wie Kehlmann dürfe man doch mit einer Weltberühmtheit nicht umgehen, vor allem wenn sie so sympathisch ist! Denn darin sind sich alle einig: Es ist gut, daß es Alexander von Humboldt gegeben hat.