© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Nach dem Anschlag weiterleben
Ein erwachsenes Kind und sein kindischer Onkel: Mikhaël Hers’ Film „Mein Leben mit Amanda“ gilt den Hinterbliebenen des islamistischen Terrors
Sebastian Hennig

Die Berichterstattung über einschneidende Ereignisse hinterläßt viele Lücken. Grelle Signale sind in weiter Ferne über dem Horizont des Geschehens auszumachen. Was jedoch in der unmittelbaren Nähe am Boden geschehen ist, entzieht sich oftmals dem gewöhnlichen journalistischen Report. Mikhaël Hers hat dafür in „Mein Leben mit Amanda“ einen filmerzählerischen Ausdruck gefunden. Es sei sein „Ausgangspunkt, das Paris von heute zu zeigen und dabei die Gewalt und das Fragile unserer Zeit einzufangen“.

Das Paris von heute wird uns in den Fragmenten einer Familie nahegebracht. Wir schauen ihnen zu, während sie ihre Jugend vertrödeln. Die junge Lehrerin Sandrine (Ophélia Kolb) zieht ihre Tochter Amanda (Isaure Multrier) allein auf und zieht sie damit zugleich in ihre eigene Haltlosigkeit hinein. Sie überstrapaziert das Kind, indem sie mit ihm wie mit einer Freundin verkehrt. Abendliche Cremetörtchen vom Konditor gegenüber überdecken die Mängel dieser Konturlosigkeit.

Unterstützung erhält die überforderte Sandrine von ihrem 24jährigen Bruder David (Vincent Lacoste), der als Stadtgärtner arbeitet und zugleich als Mädchen für alles einem großen Vermieter zur Hand geht, indem er dessen Kundschaft vom Bahnhof abholt. Weil eine indische Touristengruppe sich bei der Schlüsselübergabe verzögert, wartet seine Nichte an der Schule vergebens. Die vorübergehende Verlassenheit birgt bereits die Vorahnung eines größeren Verlustes.

Davids Leben wechselt zwischen beflissener Tätigkeit und einem Treibenlassen. Er bändelt mit der Mieterin Léna (Stacy Martin) an, die aus der Provinz nach Paris gekommen ist. Erst trägt er ihren Koffer, dann liegt sie in seinen Armen. Unauffällig werden die Straßen, Plätze und Häuser von Paris in Szene gesetzt. Sandrine will mit Tochter und Bruder ein Tennisturnier in Wimbledon besuchen. Einer Begegnung mit der in London lebenden Mutter, die sich um ihre Kinder nie gekümmert hat, will David ausweichen. Die Familienbande sind gedehnt, gerissen und gestückelt. Da ist manch kunstvoller Knoten zu schürzen, dem gleichwohl das Provisorium anzumerken ist.

Wiederkehrende Schmerzausbrüche

Die Belanglosigkeit dieses Alltags endet im Wortsinne auf einen Schlag, nämlich in den Folgen eines blutigen Anschlags. Die dem vorangehende Szene gehört zu den eindrucksvollsten des Films. David radelt aus der Stadt, um mit Sandrine und Léna zusammenzutreffen. Je mehr sich die Umgebung zur Landschaft öffnet, breitet sich das Gefühl einer Ordnung über Davids innere Wirrnis. Der Regisseur beschreibt: „Wir schweben quasi auf einer Wolke zum Ort des Anschlags, als ob alle Welt bereits weiß, was passiert ist, nur wir und David nicht.“ Als er die Fassade eines Palais und eine Allee passiert, rasen ihm Motorradfahrer mit emporgerissenem Vorderrad entgegen.

Als nächstes fällt der Blick auf die Parkwiese. Wie zu einem teuflischen Picknick liegen und sitzen dort die Getöteten und Verwundeten in ihren blutgetränkten Kleidungsstücken über den grünen Rasen verteilt. Anstatt der Panik des Angriffs bemerken wir die grausige Ruhe danach. Daß die beiden jungen Frauen unter den Opfern sind, wird in diesem Anblick beinahe nebensächlich. Wir erfahren es erst später, als David seiner Nichte mitteilt, daß ihre Mutter nicht wiederkehren wird und er die verwundete Léna aus dem Krankenhaus abholt. Er, der gern der Verantwortung für sich selbst ausweicht, muß nun für seine verwaiste Nichte einstehen, über deren leiblichen Vater uns der Film nichts verrät. David wirkt wenig männlich. Erst recht taugt er nicht als Vaterfigur. Regisseur Hers resümiert: „David ist wie ein großes Kind, das für ein Kind sorgen muß.“ Amanda macht schon vor dem schrecklichen Ereignis einen reiferen Eindruck als die kindischen Erwachsenen. 

Der Film ist keine Anklage. Der Regisseur zielt auf eine Bildkorrektur: „Nach dem 13. November sind wir in einer Bilderflut versunken, immer die gleichen Bilder in Endlosschleife. Nachrichtenbilder, die alles noch unbegreiflicher machten, statt zu helfen, uns selbst ein Bild vom Geschehenen zu machen. Auf meinem bescheidenen Level sollte der Film dem entgegenwirken.“

Der Anlaß des Leidens ist gar nicht allein dessen Ursache. Es würde die Arbeit des Aggressors weitergeführt, wenn ihm eine Bedeutsamkeit zugestanden wird, die er nicht hat. Der islamische Terrorismus wird nur einmal nebenbei erwähnt, nur um ihn nicht zu unterschlagen. Die erklärte Absicht, das Geschehen „so echt und einfach wie möglich“ darzustellen, hat sich erfüllt. Zu den beiläufig ausgebreiteten erotischen Gefühlsverstrickungen wie in den Filmessays Eric Rohmers tritt im französischen Kino ein neues Lebensgefühl der Gefährdung. Der Regisseur meint dazu: „Klar, die Wahrscheinlichkeit, daß man bei einem Autounfall ums Leben kommt, ist höher. Aber leider ist es nun auch möglich, von einer Kugel getroffen zu werden.“ 

Wir sehen die anhaltende Verstörung und die wiederkehrenden Schmerzausbrüche der Betroffenen. Amanda übernachtet zuweilen bei ihrer Großtante. Sie sucht schmerzlich nach einem Anschluß entweder an deren oder ihres Onkels Seite. Die Szene nach dem Massaker wird gegen Ende des Films um ein friedlicheres Gegenbild ergänzt. Die Hinterbliebenen treffen sich nach dem Tennisspiel in einem Londoner Park mit Davids leiblicher Mutter Alison (Greta Scacchi). Das Leben geht nicht nur weiter. Es hat sich auch gewandelt. Der Anlaß ist demgegenüber beinahe gleichgültig.