© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Historisch seltsame Eingemeindungen
Jakob Böhme „in Polen“: Irritierendes zur Wirkungsgeschichte des protestantischen Mystikers
Oliver Busch

In seinem 300. Todesjahr zurückblickend, durfte der Bonner Literaturhistoriker Paul Hankamer feststellen, daß der Einfluß des „Schusterphilosophen“ Jakob Böhme (1575–1624) „vielleicht der größte im neueren geistigen Leben Deutschland“ gewesen sei. Noch 1955 wollte Ernst Benz in der gesamten Philosophie des deutschen Idealismus nur eine „Böhme-Renaissance“ erkennen, um von Hegel und Schelling die Linien bis Carl Gustav Jung und Rudolf Steiner ins 20. Jahrhundert auszuziehen.

Diese Wirkung endete nicht an den Grenzen des deutschen Kulturraums. In England und Holland entstanden bald nach dem Tod des Philosophus Teutonicus Zentren der Böhme-Verehrung. Die erste englische Übersetzung seiner Werke (1645/47) erfreute sich der Protektion König Karls I. Diese oft untergründige Rezeption durch kleine, aber gesellschaftlich tonangebende Kreise blieb kein westeuropäisches Phänomen. Eine ähnlich starke Ausstrahlung ist schon für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in Rußland zu registrieren. 

Erfolge der polnischen Kulturpropaganda seit 1918

Um den tiefen Spuren, die der im heimischen Görlitz von der lutherischen Orthodoxie drangsalierte Mystiker und „echte deutsche Philosoph“ (Hegel) in der mittel- und osteuropäischen Geistesgeschichte hinterließ, nachzugehen, fand Ende Juni im Forschungszentrum Gotha eine internationale Böhme-Tagung statt. Auf der die Referenten sich der Verbreitung der Gedanken des Verteidigers der „Geistkirche“ gegen die in Dogmen erstarrte protestantische „Mauerkirche“ widmeten, wie sie sich in Schweden, Finnland, bei den Deutschen im Baltikum sowie im übrigen Russischen Reich entwickelte, wo 1689 in Moskau der Böhme-Apostel Quirinus Kuhlmann, der meinte, das Zarenreich in die „wahre Jesusmonarchie“ verwandeln zu können, seine provokanten Predigten mit dem Flammentod bezahlte.

Irritieren mußte in diesem nordosteuropäischen Rezeptionsrahmen Leigh Penmans (Brisbane) Vortrag über „Böhme and Poland in the 17. century“. Einem Tagungsbericht (FAZ vom 14. August) zufolge habe der australische Ideenhistoriker anhand von Böhme-Ausgaben des „polnischen Druckers Michal Karnal aus Thorn“ nachgewiesen, daß der gottsuchende „Schuster [auch] in Polen bekannt“ gewesen sei.

Ob Penman sich so äußerte oder ob der Berichterstatter ihn so verstand, als würde der Druckort Thorn, die älteste Stadtgründung des Deutschen Ordens (1231), etwas über die Aufnahme dieses „protestierenden Protestanten“ im stockkatholischen Polen sagen, wird der zu erwartende Tagungsband verraten. 

Bis dahin bleibt einmal mehr zu konstatieren, daß es der emsigen polnischen Kulturpropaganda in den letzten hundert Jahren international gelungen ist, nicht nur Kopernikus zu polonisieren, sondern weite Abschnitte der Geschichte Westpreußens, eines Ständestaats, der sogar nach der erzwungenen Vereinigung mit dem Königreich Polen (1569), vornehmlich in den von bürgerlich-protestantischer Kultur geprägten Städten Danzig, Thorn, Graudenz, Elbing, Teile seiner Autonomie bewahrte. Und der allen polnischen Landnahmen soweit trotzte, daß Westpreußen zum Zeitpunkt der zunächst partiellen Einverleibung in den Staat Friedrichs des Großen (1772) eine deutsche Bevölkerungsmehrheit aufwies. Die lag in Thorn, der Geburtsstadt des deutschen, von Böhme sehr geschätzten Astronomen Nikolaus Kopernikus, im Jahr 1919, also vor der ersten großen, aus dem bundesrepublikanischen Kollektivgedächtnis restlos verdrängten „ethnischen Säuberung“ des nach dem Ersten Weltkrieg von Polen ergatterten Weichsellandes, bei etwa 85 Prozent. 

 www.jacob-boehme.org