© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Der Flaneur
Irrwege im Stadtzentrum
Paul Leonhard

Das Zentrum der Stadt gleicht seit Monaten einem Irrgarten. Bauarbeiter haben zwischen Gericht und Post, zwischen Einkaufszentrum und Kirche, zwischen Parkhaus und Hotel – insgesamt über zwei Plätze hinweg – rotweiße Plastezäune und Warnbaken aufgestellt. Nur die grüne Fläche mit dem sprudelnden Zierbrunnen in der Mitte ist verschont geblieben.

Die Einwohner haben sich daran gewöhnt, daß sie Zeit und Aufmerksamkeit mitbringen müssen. Damit sie überhaupt noch von einem Ort zum anderen gelangen können, sind in die Baustellen schmale, ebenfalls von Zaunfeldern gesäumte Wege integriert. 

Über Nacht wandelt sich die Baustelle, verschieben sich Wege und Zäune.

Die Frage, die sich dem Passanten stellt, ist: Wie finde ich den richtigen? Dafür reicht es nicht, einfach das Ziel ins Auge zu fassen und den nächsten Eingang zu nehmen. Denn die Wege verlaufen nicht gerade, sondern in überraschenden Kurven. Am besten man beobachtet zuvor, wo andere Passanten langlaufen und wohin diese schließlich gelangen. Es hat auch keinen Sinn, sich den Pfad für später zu merken, am nächsten Tag hat sich die Baustelle in sich verschoben, gibt es neue Wege zu erkunden. Es gibt auch Irrwege, die frontal an einem quer stehenden Zaun und Sackgassen, die mitten auf der Baustelle enden. Wenn es hübsche Frauen sind, die da plötzlich verwirrt stehen, winkt und hupt der Baggerfahrer, richten sich die Pflasterer auf, wischen sich den Schweiß von der Stirn, präsentieren durchtrainierte nackte Oberkörper und grinsen fröhlich: „Na, verlaufen oder wollen Sie helfen?“

Väter stehen mit ihren Söhnen und erläutern diesen die Vielzahl der modernen Kleingeräte, die von Baustellen nicht mehr wegzudenken sind. Radfahrer üben Stehendfahren, wenn vor ihnen ein Rentner langsam seinen Rollator vor sich her schiebt. Drei Männer hocken um eine Wasserwaage, die sie auf das Gleisbett der Tram gelegt haben und fluchen vor sich hin. Keine Spur von hektischem Treiben. Die Stadt ist entschleunigt.