© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

„Wir zerstören die Zukunft“
Einsatz für den Umweltschutz gilt als Ausdruck edler Gesinnung – im Gegensatz zu dem für Lebensschutz. Warum eigentlich? Weshalb liegen uns Tier, Natur und Klima mehr am Herzen als ungeborene Menschen? Fragen an den Psychiater Christian Spaemann
Moritz Schwarz

Herr Dr. Spaemann, an diesem Freitag gehen in Berlin Massen für den Klimaschutz demonstrieren, am Samstag, beim „Marsch für das Leben“, einige tausend. Ein Mißverhältnis?

Christian Spaemann: Nicht nur das, am gleichen Samstag haben die Grünen zu einer gegen den „Marsch für das Leben“ gerichteten „Demonstration für sexuelle Selbstbestimmung“ aufgerufen. Das eine mag ein Mißverhältnis sein, das andere aber ist vor allem schizophren. 

Warum fühlen sich soviel mehr Bürger vom Umweltschutz angesprochen als vom Lebensschutz? 

Spaemann: Ich denke, daß es uns schon immer schwergefallen ist zu begreifen, daß eine Menschenseele mehr wert ist als der ganze Kosmos.

Ist es nur das? Spielt nicht die mediale Präsenz des Themas Klima eine Rolle?

Spaemann: Naturschutz scheint besser in den öffentlichen Raum zu passen als der Lebensschutz. Dieser berührt nämlich sehr private, intime Bereiche des Menschen und ist schambesetzt. Dazu kommt, daß viele Leute glauben, wer sich öffentlich für Lebensschutz einsetze, erhebe sich moralisch über andere. Dieser delikaten Situation wird der „Marsch für das Leben“ allerdings in der ganzen Art seines Ablaufs gerecht. Das von Ihnen angesprochene Mißverhältnis wird natürlich auch durch die mediale Präsentation gefördert: Lebensschützer werden in die Schmuddelecke gerückt, man setzt sie in Anführungszeichen und stellt sie als Dunkelmänner dar. 

Sie sind seit dreißig Jahren psychiatrisch und psychotherapeutisch tätig. Spielt Abtreibung in Ihrem Alltag eine Rolle?

Spaemann: Ja, damit wird man in meinem Fachbereich immer wieder konfrontiert. Es kommen Frauen, die eine Abtreibung erwägen oder durchgemacht haben und das verarbeiten wollen, oder Patienten, die erfahren haben, daß ihre Mutter erwogen hat, sie abzutreiben, was ein Schock und eine tiefe Verletzung für die Betroffenen ist. 

Wie sehen Sie das Problem persönlich?

Spaemann: Ich stehe mit ganzem Herzen auf der Seite des Lebens. Mir ist aber wichtig, dabei stets in meiner Profession zu bleiben. Ich bemühe mich um Empathie und darum, den geschützten Rahmen zu geben, den sie brauchen, um sich umfassend mit ihrer Situation auseinandersetzen zu können. Die therapeutische Beziehung sollte so gut sein, daß Frauen, die eine Abtreibung erwägen, das Gefühl haben, wiederkommen zu können, egal wie sie sich entschieden haben.

Hinter dem Umweltschutz steckt der Anspruch, Menschen zu schützen. Das aber ist beim Lebensschutz sogar direkt der Fall, ohne den Umweg über die Natur draußen. Ist Lebensschutz nicht ein „grünes“ Thema?

Spaemann: Genau das ist die Schizophrenie! Umweltschützer sorgen sich um jeden Frosch in einer Au und um gesunde Ernährung, aber wenn es um das Kind im Mutterleib geht, zählt nur noch die eiskalte Emanzipationsideologie. Auf der Programm-Webseite der Grünen ist das plakativ dargestellt: kleine Kinder mit Blumen in der Hand und ein Klick weiter eine aus einer Menschenmasse herausragende junge Frau in Lederjacke, die Hände lässig in den Taschen – quasi als „Heldin der Selbstbestimmung“.

Also geht es beim Umweltschutz in Wahrheit gar nicht um den Menschen?

Spaemann: Das würde ich nicht behaupten. In meinen Augen sind die Widersprüche mancher Umweltaktivisten, insbesondere der Grünen, Ausdruck dafür, daß die geistigen Grundlagen abhanden gekommen sind, mit denen der Mensch in der Lage ist, verschiedene Aspekte seines Lebens in Einklang zu bringen. In diesem Fall wären es etwa die Aspekte Lebensschutz und Selbstbestimmung – es geht aber auch um das Verständnis von menschlicher Freiheit.

Ist es aber nicht vielleicht berechtigt, in der Anti-Abtreibungsbewegung eine Bedrohung der Selbstbestimmung zu sehen? Versucht sie nicht, der Gesellschaft ihr Welt- und Menschenbild aufzuzwingen?

Spaemann: Das hat mit Aufzwingen nichts zu tun. In solch einem Vorwurf schwingt eine relativistische Position mit, die nicht so tolerant und harmlos ist, wie sie scheint. Sie will sich gegen jene immunisieren, die den Relativismus in Frage stellen. Staat und Gesellschaft leben von stetiger Auseinandersetzung, auch über ihre Grundlagen. Ohne verbindliche Grundlagen ist ein friedliches Zusammenleben nicht möglich. Beteiligt man sich bei wesentlichen Themen nicht an dieser Auseinandersetzung, haben eben die anderen das Sagen. Immerhin geht es hier um zwischen fünf und zehn Millionen Menschenleben, die seit der Liberalisierung der Abtreibung in den siebziger Jahren das Licht der Welt nicht erblicken konnten und die uns heute fehlen. 

Worin besteht denn nun aus Ihrer Sicht das wesentliche Unrecht bei der Abtreibung?

Spaemann: Wir sollten beim Thema Abtreibung zunächst zwischen den grundsätzlichen Aspekten, zu denen wir mit Herz und Verstand Zugang haben, sowie der Lage der betroffenen Frauen unterscheiden. Ihre Situation ist häufig durch Schock, äußeren Druck, aber auch durch Mangel an Bewußtsein dafür, was bei einer Abtreibung passiert, gekennzeichnet. Auch fehlt es häufig an einer grundsätzlich positiven Haltung zum Leben und zur eigenen Fruchtbarkeit. Es steht uns nicht zu, sie zu verurteilen. Niemand weiß, wie er selbst in einer solchen Situation handeln würde.

Spielt hier nicht die Einstellung zur Sexualität eine wesentliche Rolle?

Spaemann: Natürlich. Eine positive Haltung zum Leben und zur eigenen Fruchtbarkeit schließt ein entsprechendes Verständnis von Sexualität mit ein. Sexualität wird hier im Kontext von verbindlichen Beziehungen und der Verantwortung für das ganze Leben gesehen.

Wird Jugendlichen denn eine solche Sichtweise von Sexualität vermittelt?

Spaemann: Das Gegenteil ist der Fall. Der heutige Mainstream der Sexualpädagogik vermittelt ein konsumistisches Verständnis von Sexualität und ist mit den international agierenden Abtreibungskonzernen eng verbunden. Das kann jeder im Internet nachverfolgen.

Zurück zur Abtreibung – was betrachten Sie nun als das wesentliche Unrecht dabei? 

Spaemann: Tatsache ist, daß jeder von uns einmal ein Embryo war. Auf meinem Schreibtisch liegt eine kleine Nachbildung aus Gummi, entsprechend dem Alter von zwölf Wochen. Wenn ich ihn in die Hand nehme, rührt mich das an: Gerade mal fünf Zentimeter lang – aber doch schon ein süßes kleines Baby. Ich selbst war einmal so zart und klein. Irgendwie ist dieser Anfang noch in mir. Vergangenheit und Zukunft sind dem Menschen nichts Äußerliches, beides gehört hier und jetzt zum Menschen. Sage ich zu einer Frau: „Ich liebe dich, aber in zehn Jahren würde ich gern eine andere lieben“, versteht jeder intuitiv, daß diese Liebeserklärung eine Lüge ist.

Abtreibung zerstört also Zukunft?

Spaemann: Genau. Und in gewisser Hinsicht ist es schlimmer als der Mord an Erwachsenen. Erschießt man mich, nun, ich habe schon den größten Teil meines Lebens gelebt, mich im Beruf entfaltet, eine Familie gegründet etc. Hier wird aber eine ganze Zukunft zerstört.

Spielt der Glaube an Gott für diese Sichtweise eine Rolle?

Spaemann: Die Zeitbezogenheit des Menschen zu verstehen erfordert an sich noch keinen Glauben an Gott. Der Atheist Jean-Paul Sartre hat diese Sichtweise in seinem Buch „Das Sein und das Nichts“ herausgearbeitet. Für die ethischen Konsequenzen allerdings bedeutet der Glaube eine Hilfe: Gott als Garant für die Bedeutung des menschlichen Lebens und die Würde der Person.

Ist es dann nicht doch Privatsache, ein absolutes Recht der Ungeborenen auf Leben zu postulieren?

Spaemann: Ich würde sagen nein. Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew schreibt, daß der Mensch, der nicht an Gott glaubt, dazu neigt, in seiner Auffassung von sich selbst unter das Niveau des Menschen zu sinken. Die letzten zweihundert Jahre mit ihren grausamen Ideologien haben gezeigt, daß Berdjajew, zumindest was die christliche Religion anbelangt, recht hatte. Die Religion ist es, die hier der menschlichen Vernunft und damit der Gesellschaft dient. Sie zieht das Bewußtsein der Menschen gleichsam auf die Höhe seiner Würde.

Zunehmend wird versucht, Abtreibung als Menschenrecht zu definieren, um diese international durchzusetzen. Etwa hat das „Gender Equality Advisory Council“ (GEAC), ein Beratungsgremium des G7-Gipfels, empfohlen, Abtreibung bis zur Geburt freizugeben sowie die Internet-Aktivitäten der internationalen Lebensschutz-Bewegung „Pro Life“ zu verurteilen.

Spaemann: Menschenrechte sind per Definition universal, das heißt, es steht dem Menschen nicht zu, selbst noch einmal zu definieren, wer unter sie fällt und wer nicht. Es gibt keine Grenze die wir in unserem Leben nach hinten ziehen können. Hans-Jochen Vogel sprach einmal von der dreifachen Identität zwischen uns geborenen Menschen und dem Embryo, der wir einmal waren. Es handelt sich um eine numerische, biologische und persönliche Identität. 

Und was ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen?

Spaemann: Rechtlich ist dieses gegenüber dem Lebensrecht des Kindes nachgeordnet zu sehen. Allerdings führt der Begriff „Selbstbestimmungsrecht“ in diesem Zusammenhang in die Irre. So wird einem Freiheitsbegriff das Wort geredet, der ganz auf Wahlfreiheit abstellt. Freiheit bedeutet aber ganz wesentlich, verantwortungsvoll handeln zu können und sich für das Unvorhergesehene zu öffnen. Die Frauen, die unter dem Einfluß von Lebensschützern von einer Abtreibung Abstand genommen haben und nun bezeugen können, daß sie sich ein Leben ohne ihr Kind gar nicht mehr vorstellen können, sind Legion. Es geht hier vor allem um unsere Mentalität, um das gesellschaftliche Klima.

Heute wird zunehmend der Aspekt der Rechte Dritter und ein möglicher Minderheiten-Streß in den Vordergrund gestellt, wenn durch rechtliche Normen etwas indirekt als nicht normal oder unsittlich dargestellt wird. So zuletzt beim Bundesverfassungsgerichtsurteil zum „dritten Geschlecht“. Bedeutet die Abkehr vom Prinzip des Selbstbestimmungsrechts nicht, daß die Frauen, die abtreiben, gesellschaftlich bloßgestellt werden und als die Bösen dastehen?

Spaemann: Diese rein auf vermeintliche Diskriminierung abhebende Sichtweise wird heute weit überstrapaziert und untergräbt unsere Fähigkeit, normativ zu denken. In Frankreich hat das dazu geführt, daß ein wunderschöner Fernsehfilm über Kinder mit Down-Syndrom nicht gezeigt werden durfte, weil sich sonst Frauen, die sich gegen die Austragung eines Kindes mit diesem Syndrom entschieden haben, schlecht fühlen könnten. Und wenn wir schon bei diesem Thema sind: die weitgehende Freigabe der Abtreibung und das gleichgültige gesellschaftliche Klima führt in der Tat zu einer Beeinträchtigung der Rechte Dritter. Immer wieder kommen junge Frauen in meine Praxis, die trotz schwieriger Umstände ihr Kind austragen wollen und die dem Druck ihrer Partner und Familie schutzlos ausgeliefert sind. Frauen mit behinderten Kindern müssen sich am Sandkasten von anderen scheel ansehen lassen. Heute  stehen sie als diejenigen da, die ihr Kind mit den entsprechenden Kosten der Gesellschaft zumuten.

Erinnert das nicht an die diskutierten Folgen der Freigabe von Euthanasie und assistiertem Suizid? Hier wird darauf hingewiesen, daß ältere und kranke Menschen in die Lage geraten können, sich gegenüber Angehörigen und Gesellschaft dafür rechtfertigen zu müssen, noch zu leben.

Spaemann: Selbstverständlich! Daß die Freigabe der Abtreibung zu einer neuen Euthanasiedebatte und auch Freigabe der Euthanasie führen wird, wie wir sie heute in den Beneluxstaaten haben, wurde in den siebziger Jahren von den Abtreibungsgegnern vorhergesehen. Man konnte sich diese Entwicklung an einer Hand abzählen. 

Was bedeutet das für die Zukunft der Lebensschutzbewegung?

Spaemann: Dieses Thema läßt sich nicht aufhalten. In Deutschland ist diese Bewegung noch recht klein, in anderen Ländern sind es aber tatsächlich Massen, die auf die Straße gehen. Man stellt diese Leute gerne als rechte christliche Fundamentalisten dar, doch das ist Unsinn. Lebensschützer kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten und sie wünschen sich Anhänger in allen Parteien. In den USA sind namhafte Vertreter der Abtreibungslobby zur Lebensschutzbewegung übergetreten, darunter Ärzte, die selber jahrelang Abtreibungen vorgenommen haben. Und es treten dort junge Leute auf, die eine Abtreibung überlebt haben, und die infolgedessen oft durch eine Behinderung gezeichnet sind und die dennoch öffentlich Gott dafür danken, daß es sie gibt. Die Abtreibungslobby hat eine Heidenangst vor dieser jungen Bewegung. Denn es geht ihr schon längst nicht mehr um die Frauen, sondern nur noch um das große Geschäft. Die Abtreibungslobby hat zu Recht Angst, denn ihr Konzept steht auf tönernen Füßen, und sie können ihre Ideologie nur durch permanentes Wegschauen aufrechterhalten. Aus diesem Grund versuchen sie sogar, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu hintertreiben. So etwas kann natürlich auf die Dauer nicht gutgehen. 






Dr. Christian Spaemann, der 1957 in Münster geborene Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie war zuletzt Leiter einer Psychiatrischen Klinik in Österreich und ist heute in freier Praxis tätig.

Foto: Demo für Klimaschutz (l.) und Lebensschutz (r.): „Umweltschützer sorgen sich um jeden Frosch, doch geht es ums Kind im Mutterleib, zählt nur noch die eiskalte Emanzipationsideologie“

 

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