© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Sie wollten so gerne fliehen
Wendemusik: Was die DDR-Rockband Silly von den Scorpions unterscheidet
Thorsten Hinz

Je näher das runde Jubiläum des Mauerfalls rückt, desto weniger kann man dem Lied entkommen, das seit fast drei Jahrzehnten die Sendungen und Dokumentationen zum Jubelereignis untermalt: „Wind of Change“ („Wind des Wechsels“) von den Scorpions. Obwohl erst Anfang 1991 veröffentlicht, hat die Rockballade sich als Hymne des Gezeitenwechsels von 1989 etabliert.

Das offizielle Video dazu reiht ikonische Bilder aneinander, die sich mit dem Ereignis verbinden. Den roten Faden bilden drei historische Ereignisse mit dem Potsdamer Platz in Berlin als markantem Schauplatz: die Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 durch russische Panzer; der Mauerbau am 13. August 1961 und schließlich der Fall der Mauer, theatralisch nachinszeniert mit dem Einsturz von Styroporziegel. Dabei handelt es sich um das Finale des Rockspektakels „The Wall“, das der Ex-Pink-Floyd-Mann Roger Waters am 21. Juli 1990 auf dem ehemaligen Todesstreifen veranstaltete.

Dazwischen werden zentrale Figuren jener Zeit eingeblendet: Solidarnosc-Führer Lech Walesa, Papst Johannes Paul II., KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident George Bush senior. Es gibt auch gegenläufige Szenen von Umweltkatastrophen, Kriegen sowie vom Panzereinsatz auf dem Tian’anmen-Platz in Peking 1989. Doch die Bilder von andächtig lauschenden Konzertbesuchern, vom wogenden Kerzenmeer, von Menschen, die sich glücklich in den Armen liegen, stellen das Wohlgefühl wieder her. Eine kurze Einblendung zitiert den Fotoklassiker „V-J Day in Times Square“. Das Foto vom 14. August 1945, an dem Japan kapitulierte, zeigt einen Matrosen der US-Marine, der eine Krankenschwester im Arm hält und küßt. 

Die Musik ist schlicht, eingängig, leicht konsumierbar. „Das musikalisch auffälligste Merkmal sind die gepfiffenen Soli von Scorpions-Sänger Klaus Meine, die neben Monty Pythons ‘Always Look on the Bright Side of Life’ ein seltenes Beispiel für das Wiederaufleben des Kunstpfeifens in der Rock- und Popmusik sind. Die ausgewogene Form von Intro, Strophe, Refrain, Bridge, Solo und Extro geht einher mit makellos geführten melodischen Spannungsbögen auf einen überaus singbaren Text“, heißt es im „Songlexikon. Encyclopedia of Songs“.

Im Text geht es gar nicht um Berlin, sondern um Moskau, wo die Scorpions in der Glasnost- und Perestroika-Zeit vor einem Riesenpublikum gastieren durften. In einer lauen Sommernacht durchstreift ein Spaziergänger die sowjetische Hauptstadt und spürt den „Wind der Veränderung“ wehen. „Das Lied ist meine persönliche Aufarbeitung dessen, was in den letzten Jahren in der Welt passiert ist“, sagte Klaus Meine. Doch in Wahrheit enthält es keine konkrete Beobachtung, keine originelle Metapher und keinen eigenständigen Gedanken.

Die Wahrnehmung von Moskau beschränkt sich auf Touristenklischees: Die Moskwa, der Gorki-Park, die Balalaika sowie Soldaten, die gleichfalls dem „Wind of Change“ lauschen. Die Spannungen, die Dramatik, Ängste und Unwägbarkeiten jener Zeit werden weder musikalisch noch textlich ansatzweise erfaßt. Es ist der Blick des Zoobesuchers aus dem Westen, dem die Ereignisse im Osten einen Anlaß zur emotionalen Selbststimulation bieten. Die „Aufarbeitung“ erschöpft sich in leeren Versatzstücken und schwülstigen Bildern: die „Magie des Augenblicks“, die „glorreiche Nacht“, die „Freiheitsglocke“. Der idealistische Überschwang des jungen Schiller wird in Sentimentalität aufgelöst: „Die Welt wird kleiner/ Und hast du je gedacht/ Daß wir so nahe sein könnten, wie Brüder?“ Eine globale Menschengemeinschaft hat mit Francis Fukuyama das Ziel der Geschichte erreicht und sich unter dem westlichen Wertehimmel glücklich vereint.

Nun ist „Wind of Change“ ein Welthit geworden und hat sich millionenfach verkauft. Das Video verzeichnet auf Youtube mehr als 714 Millionen Zugriffe. Auch für die Scorpions gilt, was Karl Lagerfeld 2006 über das damals 25jährige Glamourgirl, die Millionenerbin und Selbstvermarkterin Paris Hilton äußerte: Sie habe mit allem, was sie tue, Erfolg. „Wer Erfolg hat, hat recht. Erfolg kann man nicht kritisieren.“

Doch man kann seine Struktur und Wirkung betrachten: Das Lied vermittelt ein geschichtliches Ereignis auf dem versimpelten Niveau der Massenkultur. Dabei diktiert der Westen dem Osten in exemplarischer Weise, wie er die Ereignisse, deren Akteur und Schauplatz er war, zu verstehen hat. Die geistig-moralische Enteignung und Fremdbestimmung wird nicht dadurch aufgehoben, daß der Osten sich ihr in einer Phase totaler Erschöpfung willig unterworfen hat. Inzwischen ist die Selbstentfremdung ins Bewußtsein getreten und hat ein Reflexionsprozeß über die oktroyierten Begriffe und Machtverhältnisse begonnen.

Der letzte Sommer der DDR war von einem ganz anderen Sound untermalt, der die Perspektive der Zooinsassen ausdrückte. Es gab die Minderheits- und Hardcore-Variante der Punkband Feeling B – B stand für Berlin –, aus der später die Rockband Rammstein hervorging: „Wir woll’n immer artig sein,/ denn nur so hat man uns gerne./ Jeder lebt sein Leben ganz allein/ und abends fallen die Sterne.“ Darauf folgte ein dreimaliges „Heja Hoja Ha“ , ein ironischer Walkürenritt. Der Feeling-B-Sänger und Anarcho Aljoscha Rompe wurde zum Vorbild für die Titelfigur in Lutz Seilers Roman „Kruso“ („Schiffbrüchige auf der Arche“, JF 42/14).

Die weiche, die Mehrheitsvariante stammte von Silly, der populärsten Rockband des Landes. Um die Wirkung von damals einigermaßen nachzuerleben, muß man ihr Album „Februar“ im 30 Jahre alten Original-Vinyl auflegen. Denn auch die hörbaren Schrammen und Risse, die damals beim Abspielen in der Endlosschleife entstanden, sind authentische Zeitzeugnisse.

Die LP war mit einmonatiger Verzögerung im März 1989 herausgekommen, denn die Verse (in Originalschreibweise): „es geht ein gespenst in der mitropa um/ es spukt auf dem friedhof der Träume/ …/ es grünen die scheintoten bäume“, veranlaßte die Mitropa – eine Service-Gesellschaft, die in der DDR für die Versorgung von Reisenden in Bahnhöfen, Zügen und auf Autobahnraststätten zuständig war – zu einer Klage. Doch ein Verbot hätte die herrschende Spannung im Land weiter erhöht. Außerdem hätte es gar nichts genutzt, denn die LP war in West-Berlin aufgenommen worden und erschien zeitgleich in der Bundesrepublik. So wurde der Song „Verlorene Kinder“ zur allgegenwärtigen Hintergrundmusik der nächsten Monate.

Die Sängerin Tamara Danz gab mit sprödem Timbre der Tristesse der späten DDR den perfekten Ausdruck. Den Eingangsversen: „der wohnblock liegt am abend/ wie ein böses tier“, folgte als leitmotivischer Kontrapunkt: „wo sie zu hause sind“. Der „Wohnblock“ – im Volksmund: „die Platte“ – stand pars pro toto für die „sozialistische Lebensweise“, die der Staat seinen Bürgern verordnet hatte. Das Zuhause, in das man hineingeboren wurde, war niemals hundertprozentig mit dem Sozialismus identisch, wurde aber von ihm überformt und war über die Jahre zum Ort der totalen Entfremdung geworden. Der Schmerz, daß das Zuhause keines mehr sein konnte, äußert sich in der Melancholie, die das Lied durchzieht. Der Refrain widerspiegelte die geistig-moralische Implosion des SED-Staates, der die jungen Menschen verloren hatte: „In die warmen Länder/ würden sie so gerne fliehn/ Die verlornen Kinder/ In den Straßen von Berlin.“ 

Im Lied „SOS“ ist das Land „ein Narrenschiff überm schwarzen Riff“. Die Fügsamkeit der Mannschaft hat ganz banale Gründe: „immer noch gibt uns die kantine / kostenloses essen aus“. Außerdem ist der kollektive Realitätssinn gestört: „immer noch träumen wir von Heimkehr/ und vertraun dem Kapitän“. Am Ende geht es um die Macht: „immer noch haben wir den schlüssel/ von der waffenkammer nicht“.

Das Lied „Alle gegen einen“ handelt vom Umgang mit Abweichlern: „schon ruft der mob mich in den kreis/ schon senken sich die lanzen/ sie klatschen sich die hände heiß/ und ich soll für sie tanzen“. Dreißig Jahre später klingen solche Sätze erstaunlich gegenwärtig.

Im September 1989 gehörte Tamara Danz zu den Initiatoren einer „Resolution der Liedermacher und Rockmusiker“, die dagegen protestierte, daß „Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden“. Sie forderte „eine Öffnung der Medien“ und die „Änderung der unaushaltbaren Zustände“. Vier Jahre später zog die Sängerin ein bitteres Resümee: „Ich hätte mir schon gewünscht, daß man uns etwas Zeit läßt, unsere Angelegenheiten zu bereinigen, statt bereinigt zu werden. Am Ende muß man sich ja noch entschuldigen, hier (in der DDR – Th. H.) überhaupt Luft geholt zu haben.“