© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Wenn der Geist vorausgeht
Übers stille Land fliegt die Seele nach Haus: Stefan Sicks Dokumentarfilm „Das innere Leuchten“ begleitet Demenzkranke
Sebastian Hennig

Überwiegend als Kameramann ist der 1981 in Buxtehude geborene Stefan Sick bisher tätig gewesen. In „Das innere Leuchten“ verantwortet er auch das Buch, führt Regie und hat sich zudem am Schnitt beteiligt. Der Dokumentarfilm begleitet die dementen Bewohner einer Pflegeeinrichtung. Ohne jeden Kommentar wird deren Alltagsleben ins Bild gesetzt.

Dem selbstgestellten Anspruch einer „poetischen Interpretation dieses besonderen Zustands“ wird das Ergebnis tatsächlich gerecht. Sick berichtet von seiner Intention: „Als ich zum ersten Mal das Pflegeheim betrat, eröffnete sich vor mir eine Welt, der ich mich nicht entziehen konnte. Ein Bewohner nahm mich direkt an der Hand und zerrte mich durch die Gänge, was er mir sagen wollte war mir nicht verständlich. Ich sah nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich bleibe und lasse mich auf diese wundersame Welt ein oder ich versuche diesen Ort möglichst schnell wieder zu verlassen. Ich entschied mich zu bleiben.“

Der Charakterdarsteller ist ein alter Schreinermeister. „Mit Manfred Volz und weiteren“ steht auf dem Filmplakat. Der stattliche Mann summt freundlich geheimnisvolle Sätze vor sich hin, die keine offensichtliche Botschaft haben. Mit den schönen Greisenhänden gestikuliert er dazu musikalisch wie ein griechischer Tragöde. Das Verstörende weicht rasch, und die Aufnahmen nehmen die Angst vor einem natürlichen Vorgang der Auflösung, in dem der Geist dem Körper vorausgeht. Das einzige, was letztlich etwas traurig stimmt, ist die komfortable Trostlosigkeit der Räume der Pflegeeinrichtung. 

Der Film heftet sich nicht an das Bizarre. Er stellt seine Protagonisten nie aus, wenn er sie auch immer unverborgen zeigt und stets darstellt wie ihr „Charakter ungefiltert nach außen dringt“, so  Stefan Sick. Wenn ihnen ein riesiger Ballon zugeworfen wird, um die natürlichen Reflexe anzuregen, wirkt das nicht therapeutisch, sondern spielerisch. Helga beginnt unvermittelt während des Mittagessens mit Linsen und Spätzle im offenen Mund zu heulen. Anstatt ihr diese vermeintlich grundlose Traurigkeit auszureden, erhält sie einen Zuspruch, der ihr Gefühl nicht in Frage stellt.

Wenige Naturaufnahmen bieten Deutungsansätze

Volz, der schwäbische Handwerksmeister, ist unentwegt tätig. Während der Mittagsruhe nimmt er seinen dösenden Mitbewohnern die Pantoffeln ab oder er meldet sich in der Küche: „Kann ich was tun?“ Die bildhübsche Pflegerin reicht ihm einen Schwamm. Damit beginnt er die Oberflächen zu reinigen und verfällt in einen Bearbeitungsmodus, als würde er mit Schmirgelpapier das Holz abschleifen. Im Eifer stößt er mit dem Kopf an einem Regal an. Der Film gibt auch diese Mißgeschicke ungeschnitten wieder. Die Darsteller verletzten sich damit wohl am Körper, aber nicht in ihrer Würde.

Volz wendet sich an das Personal, ob er etwas fragen darf. Auf dessen Ermunterung entfährt ihm nur ein sinnloses Gebrabbel. Dann macht er wieder mit großer Hingabe sein sparsames Yoga mit den Händen.

Wenige Naturaufnahmen bieten die einzigen Deutungsansätze für die hier gezeigten offenbaren Geheimnisse. Das Blätterdach der Bäume und trockenes Steppengras in der Froschperspektive aufgenommen, in dessen Hintergrund sich bunte Gleitschirme über den Himmel schrauben, bieten Metaphern für das Versinken der vormals Willenskräftigen im Vegetativen.

Die Verdämmernden sind einer Welt abhanden gekommen, die sie über Jahrzehnte mit großer Energie mitgestaltet haben. Eine Fotografin tut so, als könne sie sich erinnern, was sie in ihrem Atelier getan hat, als ihr Mann Bilder aus der Vergangenheit zeigt. Jetzt hat sie einen neuen Freund gefunden, der im gleichen Dunst webt. Der spricht im Gegensatz zum sinnfreien dialektalen Singsang des Schreiners klare Sätze in gewählter Aussprache. Als er die Freundin zu einem Spaziergang gewinnen will, erhält er den Bescheid „Ich weiß gar nicht. Ich mache alles mit.“ Auf weitere Nachfrage ergeht die sibyllinische Antwort: „Ich stehe auf  aber ich bleibe erst mal hier sitzen.“ 

Ein gefährliches Experiment ist mit dem Film geglückt. Es werden die seherischen Verkündigungen einer uns fremden Menschengruppe aufgenommen. So klingt es beinahe wie Häuptling Seattle oder Lao Tse, wenn Volz bedeutet: „Gleich müssen wir raus. Draußen ist das Licht hell.“ In der folgenden Natursequenz bricht das Sonnenlicht durch die Baumwipfel. Die Männer und Frauen stehen sich gegenseitig bei, wie Kinder, die sich verirrt haben. Ein Grüppchen sitzt im kühlen Lichtschein eines Nachsommers im Freien. Wie ein fremder Indianerstamm wirken sie, so in ihre Decken gehüllt und dem puren Dasein ohne Absichten hingegeben.

Zu einer weihnachtlichen Feier findet der Meister mit einer jungen Frau im Arm recht rasch in den Walzertakt. Er ist immer noch ein Bild von einem Mann. Vater und Sohn nehmen zuletzt am Gottesdienst teil und empfangen die Sakramente. Der Alte summt dann inmitten des Gemeindegesangs sein eigenes wunderliches Liedgut. Später sehen wir ihn wieder auf dem Gang beim stummen Dirigat im Bademantel.

Als abschließender Kommentar erklingt am Ende des Films die Vertonung des Eichendorff-Gedichts „Mondnacht“ aus Schumanns Liederkreis: „Und meine Seele spannte ihre Flügel aus und flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“ Stefan Sick ist ein großartiger und notwendiger Film mit begnadeten Darstellern gelungen.