© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Im Akkord schuften für einen Hungerlohn
Globalisierung konkret jenseits politischer Verklärung: H&M, Boss und andere Textilunternehmen lassen jetzt in Äthiopien nähen
Oliver Busch

Die von deutschen Politikern wie Wolfgang Schäuble (CDU) gern als „Schicksal“ verkaufte Globalisierung ist unter ideologisch weniger ambitionierten Wirtschaftswissenschaftlern schlicht die Installierung des Modells angelsächsischer Billiglohnökonomie in den Entwicklungs- und Schwellenländern des globalen Südens. Hier gibt es viele schwache Staaten, unfähig zu politischen Eingriffen und zur Regulierung „freier Märkte“. Entsprechend läuft die Produktion auch „befreit“ von profitmindernden rechtlichen und sozialen Verpflichtungen gegenüber den Arbeitern.

Unter welchen paradiesisch „liberalen“ Bedingungen die kapitalistische Gesellschaftsmaschine, die die auf die Vermehrung des bloßen Geldreichtums gerichtete abstrakte Arbeit zum Selbstzweck erhoben hat, in der sogenannten Dritten Welt operiert, bleibt dem westlichen Konsumenten der in exotischen Zonen hergestellten Waren meist verborgen. Erst wenn „dort unten“ etwas schiefläuft, gestattet er sich einen Blick auf Verhältnisse, die an das frühindustrielle Elend erinnern, wie es Friedrich Engels 1845 in seinen Berichten zur Lage des englischen Proletariats schilderte.

So etwa geschehen im April 2013, als in Bangladesch ein Fabrikgebäude, in dem fünf den internationalen Markt beliefernde Firmen residierten, einstürzte und die Retter 1.100 Arbeiter tot, 2.000 verletzt aus den Trümmern bargen. Da konzentrierte sich die mediale Aufmerksamkeit kurzzeitig auf die Mißstände in der am gründlichsten globalisierten Bekleidungsindustrie. Mit der Folge, daß sich europäische und nordamerikanische Firmen verpflichteten, künftig Standards für Gebäudesicherheit und Brandschutz einzuhalten.

Dem deutschen Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) gelang es damals, ein „Textilbündnis“ zu schmieden, das darüber hinaus für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Umweltschutz und faire Löhne in der Textilbranche sorgen soll. Über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bemüht sich die Bundesregierung zudem, selbst soziale und ökologische Standards an Ort und Stelle durchzusetzen.

Unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften  

Mit eher bescheidenem Erfolg, wie eine Reportage der Journalistin Stefanie Seyferth über den „Hawassa Industrial Park“ im Osten Äthiopiens zeigt (zeitzeichen, 8/2019). Dort will die Regierung in Addis Abeba 37 Textilunternehmen ansiedeln und 60.000 Arbeitsplätze schaffen. Sie gehorcht dabei dem globalistischen Imperativ, hohen Gewinn aufgrund niedriger Löhne zu erwirtschaften. Allein deswegen lassen sich die für H&M, Boss, Calvin Klein und andere tätigen asiatischen Firmen aus ihren fernöstlichen Billiglohnzonen in Bangladesch, Sri Lanka oder Vietnam jetzt in die noch mehr Rendite versprechenden Gefilde Afrikas locken.

Seyferths Recherchen scheinen auf den ersten Blick linke wie rechte Globalisierungskritik zu bestätigen. Junge Frauen, schnell angelernt, schuften im Akkord für einen Hungerlohn von einem Euro täglich. Angefeuert von überall sichtbar plakatierten Sinnsprüchen aus dem kapitalistischen Katechismus: „Time is money“ oder „Efficiency is profit“. Das von asiatischen Managern überwachte, auf die Sekunde abgestimmte Regime der Arbeit mit den schon verinnerlichten Mechanismen der Selbstdisziplinierung und automatenhaften Verausgabung von „Hirn, Muskel, Nerv, Hand“ (Karl Marx) funktioniert reibungslos.

Um auch außerhalb der Fabrikhallen optimale Bedingungen zu schaffen, garantiert der äthiopische Staat niedrige Strompreise und Zollfreiheit für den Export nach Europa. Streikfördernde Personalknappheit kann nicht eintreten, da die Bevölkerung am Horn von Afrika rasant wächst und das Reservoir an billigen Arbeitskräften unerschöpflich ist. Vietnam hingegen könne man getrost „vergessen, weil dort die Löhne mittlerweile viel zu hoch“ seien, wie Alan Chen, der Geschäftsführer der taiwanesischen Firma Everest Seyferth anvertraut. 

Auch wenn Seyferths Sondierungen der Realitäten in Äthiopien viele antikapitalistische Gemeinplätze bestätigen, lassen sie zugleich gegenläufige Bewegungen erkennen. In 20 Jahren seien Äthiopiens fette Weidegründe für das goldene Kalb abgegrast, läßt Chen erkennen, „dann kosten die Arbeiterinnen hier so viel wie in Vietnam“. Ein Prozeß, der mit der Automatisierung nur verlangsamt werden kann, was wiederum nur mit Ingenieuren und höher qualifizierten Arbeiterinnen zu bewerkstelligen sei. Darin liegt für Seyfarth eine „Chance für Äthiopien“, da mittelfristig eine Mischung aus akademisch gebildeten Fachkräften und „selbstbewußter Arbeitsklasse“ das Land mitgestalten werde.

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