© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  KG  www.jungefreiheit.de 39/19 / 20. September 2019

Hinterlassenschaft für die Enkel
Geschichte schreiben: Zeitkapseln erfreuen sich auch bei Privatpersonen zunehmender Beliebtheit
Verena Rosenkranz

Jahrzehnte, Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende sollen sie überdauern und unseren Nachfahren Zeugnis unserer Epoche und Existenz liefern. Vergraben tief unter der Erde, eingemauert oder gesammelt in extra dafür errichteten Gebäuden, sollen Zeitkapseln noch bestehen, wenn wir das Zeitliche längst gesegnet haben. 

Bei der Grundsteinlegung großer Gebäude, kultureller Bauten oder statischen Besonderheiten ist es seit jeher üblich, Aufschlußreiches für spätere Generationen zu hinterlassen. Die scheinbar unkaputtbaren Kapseln, Kisten oder Schatullen erfreuen sich aber auch in der breiten Öffentlichkeit und bei Privatpersonen mittlerweile immer größerer Beliebtheit. Besonders ausführlich mit der Geschichte, den Inhalten und der Entwicklung dieser Vorgangsweise beschäftigt sich die Universität Oglethorpe in Oklahoma. Dort gibt es sogar eine „International Time Capsule Society“. Mehr als 10.000 dieser Erinnerungsstücke sind nach ihrer Schätzung mittlerweile weltweit versteckt. Allerdings so gut, daß die Wahrscheinlichkeit, sie alle jemals wiederzufinden, relativ gering sei. 

Das Messer des Opas, die Uhr des Vaters

Etwa beim Bau eines neuen Kindergartens, wo mit Pomp und Krach der Bürgermeister eine solche Kapsel in das Fundament legt oder einfach bei der Geburt eines Kindes, wo das gute Teil im Garten vom Vater vergraben wird. Und zwar mit Gegenständen, die man früher eben hinten im Kleiderschrank aufbewahrt oder in Kisten auf den Dachboden gestapelt hatte: Zeitungsausschnitte vom Geburtsdatum, die erste Locke, besondere Bilder oder Familiengeschenke, die dann zum 18. Geburtstag erst übergeben werden. Heute darf es schon ein wenig mehr sein, die Zeitkapsel wird ins Haus geliefert, um dort bombensicher die persönlichsten Erinnerungen für die nächsten zwei Jahrzehnte aufzubewahren: Gegenstände aus den Berufen der Ahnen, das Taschenmesser des Großvaters, die Einsatzuhr des Vaters aus Afghanistan, ein Ring der Mutter.

Dabei kann schon bei den Vorbereitungen einiges schiefgehen, wie die Suche nach einem ganz bestimmten Zeitkapselinhalt zeigt. Seit 1976 gehen etliche Interessierte, Polizisten, Journalisten und Hobby-Archäologen dem Weg eines riesigen Stapels Papiers nach: den Unterschriften von rund 22 Millionen US-Bürgern. Bislang allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Dabei wäre hier tatsächlich ein spektakuläres Stück Geschichte konserviert worden. Eingesammelt wurden die Signaturen anläßlich der Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten. Monatelang fuhren damals Planwagen durch die 48 Bundesstaaten des Festlandes. Wo immer sie Halt machten, durften die Bürger ihren Namen auf eine historisch anmutende Schriftrolle setzen – als Teil eines großen, erneuerten Bekenntnisses zur amerikanischen Unabhängigkeit und den Prinzipien der Gründerväter. Rund ein Zehntel der Bevölkerung unterschrieb. Zur eigentlichen Feierlichkeit sollte dann ein Zug die Schriftrollen nach Pennsylvania bringen. Dort sollten sie in eine Zeitkapsel gepackt und vergraben werden. Mit der Aufschrift, sie erst hundert Jahre später zu öffnen. 

Angekommen dürften die Papiere dort aber niemals sein, wie man Zeitungsberichten entnehmen kann. Die Washington Post etwa hat errechnet, daß 22 Millionen Unterschriften, von denen sich je 24 auf einem Pergament befanden, einen Papierstapel von 65 Metern Höhe ergäben. Die verschwundenen Schriftrollen aus dem „Bicentennial Wagon Train“ sind damit das wohl größte Mysterium in der Geschichte der amerikanischen Zeitkapseln, bevor besagte überhaupt vergraben werden konnte. Gesucht wird trotzdem immer noch. 

Bereits in den dreißiger Jahren begann ein Universitätsprofessor mit dem Vergraben der scheinbar unzerstörbaren Schatullen im Privaten. Er wollte seinen Nachkommen ein Stück des „American Way of Life“ hinterlassen. Thornwell Jacobs, Präsident der Oglethorpe University in Atlanta, war fasziniert von der Öffnung der ägyptischen Pyramiden, aber zugleich enttäuscht, wie wenig Information sich aus der damaligen Zeit darin befand. Kurzerhand beschloß er, Zeitkapseln zu basteln und sie mit Informationen aus seinem Zeitalter zu befüllen. 

Auch in Deutschland wird die Idee, den Nachfahren ganz persönliche Spuren zu hinterlassen, immer beliebter. Eine Zeitkapsel gibt es im Internet oder im Bauhaus für unter 40 Euro. Wieviel die nachkommenden Generationen in hundert Jahren damit anfangen können, bleibt angesichts von Röhrenjeans, Genderflyern und Einhornschokolade (JF 30/17) wohl eines der humorvollsten Rätsel der Gegenwart.