© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Die Lehre von 1989
Vor 30 Jahren reisten Tausende DDR-Bürger aus Prag aus: Der Begriff des Flüchtlings ist heute entstellt
Michael Paulwitz

Tage, die die Welt bewegten. Die als Befreiung begrüßte Ausreise Tausender Deutscher, die der DDR den Rücken gekehrt und in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gefunden hatten, läutete in den letzten Septembertagen des Jahres 1989 die Agonie der kommunistischen Diktatur ein. Eine Generationenspanne nach dem Wendeherbst der Deutschen, der die Teilung ihres Vaterlandes nach vier Jahrzehnten beendete, treibt die Mythenbildung immer seltsamere und wildere Blüten.

Es war wohl Hans-Dietrich Genschers größte Stunde, als er den erwartungsvoll in der Prager Botschaft Ausharrenden ihre Ausreise verkünden konnte. Dennoch war der FDP-Außenminister, der aus Halle an der Saale stammte, ebenso ein Getriebener wie Bundeskanzler Helmut Kohl selbst, den die verklärende Rückschau heute zum „Kanzler der Einheit“ mythologisiert.

Keine politische Strategie nämlich hat das Ende der Teilung Deutschlands erzwungen, sondern die doppelte Abstimmung mit den Füßen, mit der das Volk in Mitteldeutschland den Druck erhöht hat, bis das Kartenhaus der morschen SED-Diktatur zusammenbrach: die einen, indem sie auf der Flucht vor der Repression in Scharen das Land verließen, die anderen, indem sie friedlich und in Massen auf die Straßen gingen.

Es spricht für die Intelligenz Helmut Kohls, der noch wenige Jahre zuvor jeden Gedanken an eine baldige Wiedervereinigung als „blühenden Unsinn“ abgetan hatte, daß er den vielzitierten „Mantel der Geschichte“ ergriff, als dieser nicht mehr aufzuhalten war, und sich der Wiedervereinigung nicht länger entgegenstellte, statt sich auf eine vermeintliche „Alternativlosigkeit“ seiner einmal eingenommenen Position zu versteifen.

Daß Kohl dennoch nichts Eiligeres zu tun hatte, als die eben durch den Willen des Volkes und namentlich der Mitteldeutschen erkämpfte Chance zur Souveränität der wiedergewonnenen deutschen Staatlichkeit gleich wieder per Maastricht-Vertrag und Währungsunion an der Brüsseler Garderobe abzugeben, ist nur eine der von ihm hinterlassenen Hypotheken, an denen Deutschland bis heute schwer zu tragen hat.

Skepsis gegenüber dem eigenen Volk und seiner Wiedervereinigung war in der alten Bundesrepublik stillschweigender Parteienkonsens. Nicht nur bei den Grünen, unter deren führenden Figuren sich reichlich in der Wolle gefärbte kommunistische Sektierer und „Antideutsche“ fanden. Mancher, der zur Wendezeit Haßparolen wie „Nie wieder Deutschland!“ vor sich hertrug, ist später – wie die heutige Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth – in höchste Ämter eben jenes verabscheuten Deutschlands aufgestiegen und lebt nicht schlecht davon, die eigene Vergangenheit von höchster Stelle aus zu vernebeln.

Den Sozialdemokraten fehlte indes auch damals schon das taktische Geschick. Der Aufstand gegen das kommunistische Regime der DDR, des vermeintlich „besseren Deutschland“, erfüllte ihre linksgewirkten Anführer mit tiefer Abneigung. Es gebe „wichtigere Fragen“ als die Wiedervereinigung, beschied der niedersächsische SPD-Chef und nachmalige Bundeskanzler Gerhard Schröder noch im Juni 1989. Johannes Rau, damals Ministerpräsident in NRW, forderte am 30. November 1989 ein Ende dieser „abstrakten Debatte“.

Auch Willy Brandt, heute als Einheits-Ikone verherrlicht, hielt die Wiedervereinigung ein Jahr zuvor noch für eine „Lebenslüge“. Und der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine wollte volksdeutsche Aussiedler und „Übersiedler“ aus der DDR mit Auflagen fernhalten – kein Zuzug ohne Nachweis von Wohnung und Arbeitsplatz –, die seine Partei damals wie heute für Asylbewerber aus aller Herren Länder entrüstet von sich weist.

Daran wollen die Genossen heute nicht mehr erinnert werden, wenn sie sich gönnerhaft zu Fürsprechern der angeblich „Abgehängten“ im Osten aufspielen. Noch perfider freilich ist die ideologische Falschmünzerei, die seit dem Merkelschen Willkommens-Putsch von 2015 den Begriff des „Flüchtlings“ systematisch verdreht und entwertet hat.

Die Botschaftsflüchtlinge, die im September 1989 in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Aufnahme begehrten, weil sie es in der DDR-Diktatur nicht mehr aushielten, waren Flüchtlinge. Wirtschaftsmigranten, die um die halbe Welt reisen, nicht weil sie verfolgt wären, sondern weil sie im deutschen Sozialstaat ein besseres Leben erwarten, sind keine Flüchtlinge, auch wenn sie noch so penetrant von Politik und Medien mit diesem Schwindeletikett versehen werden.

Die aus der DDR nach Westen flohen, waren Deutsche – in ihrem Selbstverständnis und im Sinne des Grundgesetzes. Sie waren Landsleute in Not, denen zu helfen ein Gebot der nationalen Solidarität war, auch wenn grüne und rote Fundamentalisten die deutsche Teilung als historischen Schuldspruch überhöhten und sich lieber in Fernstenliebe übten. Und vor allem: Sie kamen nicht aus einem fremden Kulturkreis in ein fernes Land, sie wollten als Deutsche von einem Teil Deutschlands in den anderen, den freieren gelangen, und die Staatsmacht wollte ihnen das mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl verwehren.

Es ist arglistige Propaganda, wenn die Genossen im Geiste der Mauerbauer von einst, die auf echte Flüchtlinge schießen ließen, weil diese ihrem sozialistischen Paradies entkommen wollten, heute das Niederreißen von Grenzen und Zäunen predigen, die nicht dem Einsperren dienen, sondern dem legitimen Schutz vor Rechtsbruch und ungebetenen Eindringlingen.

Die Gleichsetzung der Massenflucht aus der DDR mit der als „Flüchtlingskrise“ fehldeklarierten Massenmigration unserer Tage ist eine faustdicke Lüge. Und wer auf Lügen baut, wird über kurz oder lang darunter begraben. Auch das lehrt nicht zuletzt der Untergang der DDR vor nunmehr bald dreißig Jahren.