© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

„Wer es ernst meinte, erntete Zorn“
Wie kaum ein anderer kämpfte er für die Wiedervereinigung – schon lange vor der friedlichen Revolution von 1989. Detlef Kühn, ehemals Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, legte sich selbst mit seinen Dienstherren an
Moritz Schwarz

Herr Kühn, wem haben wir die Wiedervereinigung tatsächlich zu verdanken?

Detlef Kühn: Darüber wird ja viel gestritten – waren es die Bürgerrechtler, Gorbatschow oder gar US-Präsident Reagan, der die Sowjets totgerüstet hat? Doch entscheidend war jemand anderes!

Nämlich? 

Kühn: Die einfachen Bürger! Daß die 1989/90 massenhaft auf die Straße gegangen sind, hat dem politischen Geschehen die Wucht verliehen, die die SED zu Fall gebracht und die rasche Wiedervereinigung erzwungen hat.      

Was ist dann von der Kritik ehemaliger Bürgerrechtler zu halten, AfD, Pegida und andere mißbrauchten die Werte der Wende?   

Kühn: Das ist natürlich Unfug, vor allem aber dreist: Auch wenn die Bürgerrechtler einen verdienstvollen Anteil an der Wende haben, haben sie sie ja nicht allein gestaltet. Zumal viele von ihnen keine Wiedervereinigung wollten, sondern „nur“ eine demokratisierte DDR.

Wie steht es dreißig Jahre nach der Wende um die sogenannte „innere Einheit“ – die vielen ja als mißlungen gilt? 

Kühn: Die Rede von der angeblich fehlenden „inneren Einheit“ ist eine Schimäre, mit der ich nichts anfangen kann. Die Deutschen in Ost und West verbindet in Wahrheit viel mehr als sie trennt: Sprache, Kultur, Herkunft, Geschichte – also das Nationalgefühl. Diese Einheit war sogar während der gesamten vierzig Jahre der Teilung im wesentlichen intakt. Selbst damals waren, bei allen sich entwickelnden Eigenheiten, die Gemeinsamkeiten weit zahlreicher als die Unterschiede. Überhaupt ist die Fixierung auf das Trennende immer eine sehr westdeutsche Perspektive gewesen, denn in der DDR ist das Bewußtsein für die nationale Einheit nie verlorengegangen. Das lag auch daran, daß man im Westen von einem vereinten Westeuropa träumte, was es in Osteuropa nie gab. Dort hat man den (sozialistischen) Nationalstaat, trotz marxistischer Utopie, nie als zu überwindendes politisches Übel betrachtet, sondern als erstrebenswerten Normalzustand. Wenn man im Ostblock von etwas träumte, dann von mehr, nicht weniger nationaler Unabhängigkeit. So wie es 1989/90 auch gekommen ist.

Aber die DDR war doch keine Nation. 

Kühn: Eben. Auch deshalb bestand dort der Wunsch nach Wiedervereinigung. Und daß sich die Mentalität in der Ex-DDR bis heute teilweise von der im Westen unterscheidet, ist auch kein Argument für ein Mißlingen der Einheit – sondern ganz normal! Nirgendwo auf der Welt gibt es ein Land, das hundertprozentig homogen ist. In jeder Nation gibt es zum Teil sogar erhebliche regionale Unterschiede – was auch zu ihrem kulturellen Reichtum gehört. Ich frage mich manchmal, wozu die Leute eigentlich in alle Welt verreisen, wenn sie dabei noch nicht einmal zu so einer offensichtlichen Erkenntnis kommen. Nein, der Anspruch, der bei uns bei „innere Einheit“ oft mitschwingt, nach totaler Harmonie, ist einfach irreal und eine Verkennung des menschlichen Charakters. Wobei ich glaube, daß etliche unserer Meinungsmacher auch unbedingt das Haar in der Suppe finden wollen, nur um die Einheit schlechtzureden. 

Aber es geht doch tatsächlich ein tiefer Spalt durchs Land.

Kühn: Ja, nur hat der nichts mit der ehemaligen deutschen Teilung zu tun, sondern mit Frau Merkels Euro- und Einwanderungspolitik. 

Und daß er zwischen Mittel- und Westdeutschland verläuft, ist reiner Zufall?

Kühn: Nicht Zufall, sondern ein Irrtum: Der Spalt verläuft quer durch Deutschland und spaltet uns überall in sogenannte „Wutbürger“ und „Gutmenschen“. Daß er in Sachsen oder Brandenburg etwas ausgeprägter ist als etwa Hessen oder Niedersachsen mag sein – ist aber ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Auch im Westen haben wir schon immer Länder, die politisch ganz unterschiedlich ticken, zum Beispiel Bayern und Berlin. Im Vergleich dazu ist der Unterschied zwischen West und Ost sogar viel geringer, denn auch dort haben, trotz stärkerer AfD, zusammen jene Parteien die Mehrheit, die sie auch im Westen haben. 

Als Präsident des Gesamtdeutschen Instituts von 1972 bis zu dessen Auflösung 1991 haben Sie den Wandel der Deutschlandpolitik hautnah miterlebt. 

Kühn: Ja, diese Behörde nahm 1969 mit drei Abteilungen in Bonn und einer in Berlin die Arbeit auf. Zu ihrer besten Zeit war sie mit 250 Hauptamtlichen und etwa 500 Honorarkräften ausgestattet. Sie unterstand, als ich sie 1972 übernahm, dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen unter Egon Franke (SPD). Hauptaufgabe war die deutschlandpolitische Bildungsarbeit, mit dem Ziel „das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in Ost und West durch Informationsvermittlung zu stärken“.

Der „Spiegel“ widmete Ihnen 1981 eine Skandalgeschichte, in der er Sie als Kopf einer „scharfmacherische(n) und entspannungsfeindliche(n) ... rechten Mafia“ darstellte, die im Institut „politische Säuberung(en)“ durchführe.

Kühn: Ja, doch blieb er damit ohne Erfolg. Tatsächlich verbarg sich dahinter nichts anderes, als daß ich darauf achtete, daß im Zuge des Marschs durch die Institutionen der Achtundsechziger nur solche Honorarreferenten zum Einsatz kamen, deren Verfassungstreue in puncto Wiedervereinigung gewährleistet war.

Sie persönlich favorisierten die Neue Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs. Die aber galt vielen Nationalen doch als Verrat.

Kühn: Viele sahen das so, aber es traf in der Sache nicht zu. Und so gab es auch Nationale, und in der FDP viele überzeugte Nationalliberale, die sie befürworteten, weil sie auf einen neuen Impuls in der Deutschlandpolitik hofften. Als Verrat galt sie vor allem den Anhängern der sogenannten Hallstein-Doktrin, an der die CDU noch bis 1969 festhielt und nach der es keine Verständigung mit der DDR geben und sie statt dessen mit allen diplomatischen Mitteln bekämpft werden sollte. Nur hatte die Hallstein-Doktrin in eine deutschlandpolitische Sackgasse geführt. Deshalb war die Neue Ostpolitik – Motto: „Wandel durch Annäherung“ – der richtige Weg. Allerdings barg sie in der Tat eine Gefahr: „Annäherung“ konnte nicht nur Wandel im Osten, also in Moskau und der DDR bewirken – sondern auch im Westen. Was ich meine: Grundlage der Ostpolitik war für mich immer, nie das Ziel der Überwindung der Teilung aus dem Auge zu verlieren. Das Ziel der SED war dagegen, die Teilung zu normalisieren und eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR zu erreichen. Und eben dieser „Normalisierung“ immer weiter nachzugeben, war die Versuchung, der viele Sozialdemokraten im Laufe der Neuen Ostpolitik erlagen – sogar Egon Bahr, der zuvor stets Garant für eine Pro-Wiedervereinigungs-Politik war, zu der er zum Glück 1989 dann zurückfand. Standhaft dagegen blieb immer Willy Brandt – das will ich betonen!  

Wie wurde dann aus Ihnen ein böser Rechter, wie der „Spiegel“ 1981 meinte? 

Kühn: Immer mehr schwenkte die Politik, auch der CDU, die sich von der Hallstein-Doktrin verabschiedet hatte, in die Richtung, in erster Linie mit der SED-Führung gut auskommen zu wollen. Und da störte natürlich jemand wie ich, der mit Wandel durch Annäherung meinte, das Verhalten der SED in unserem Sinne zu wandeln und nicht das unsere im Sinne der SED. Den ersten Unmut erfuhr ich bereits während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts (SPD) ab 1974, als mich ein wütender Anruf Minister Frankes wegen eines Vortrags erreichte, den ich gehalten hatte. Ich fragte, was es an ihm auszusetzen gäbe? Denn schließlich hatte ich darin nur gesagt, was ich als Präsident gemäß dem politischen Auftrag unseres Instituts – sowie übrigens im Sinne des damals im Grundgesetz verankerten Wiedervereinigungsgebots – nun mal zu sagen hatte. Antwort: Das Problem sei nicht, was, sondern daß ich es gesagt hätte! Da sehen Sie, wie der Wind plötzlich blies.

1982 folgte auf Helmut Schmidt als Kanzler Helmut Kohl, der, ebenso wie seine CDU, als Verteidiger der Einheit galt.       

Kühn: Offiziell ja, tatsächlich aber erfuhr, wer damit Ernst machen wollte, seinen Zorn. Ich ebenso wie etwa der FAZ-Journalist Karl Feldmeyer oder der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann, der 1987 in seinem Buch „Einheit statt Raketen“ eine aktive Wiedervereinigungspolitik statt Nachrüstung vorschlug, und etliche andere. 

Also wurde der Auftrag zur Wiedervereinigung von der Politik verraten?

Kühn: Nein, aber leider ignoriert.

Dem Wähler den Einsatz dafür versprechen, dann aber nichts tun, ist kein Verrat?

Kühn: Verrat ist doch etwas Öffentliches – hätte man die Wiedervereinigung offiziell gestrichen, das wäre Verrat gewesen.

Begonnen hat Ihre Karriere 1966 in der FDP-Bundestagsfraktion unter dem damaligen Parlamentarischen Geschäftsführer Hans-Dietrich Genscher.  

Kühn: Ja, ich habe viel bei ihm gelernt. Allerdings war Genscher der Typ Politiker, der unter keinen Umständen verlieren wollte: Gab es in der Fraktion eine Kontroverse und die Debatte kam zur Entscheidung, bekam er „zufällig“ einen Anruf, mußte eine Akte holen oder austreten. Nach einiger Zeit kam er zurück, erkundigte sich nach dem Ergebnis und teilte mit, er hätte ebenso entschieden. 

Um immer auf der Siegerseite zu stehen?

Kühn: Jedenfalls nicht auf der der Verlierer. Das wäre ja schlecht fürs Image.

Er war also ein reiner Opportunist? 

Kühn: Opportunist ja, aber ein „reiner“? Er hatte schon auch ein paar Überzeugungen. So war Genscher nicht aus Zufall bei der FDP, statt bei einer anderen Partei, sondern weil er ein Liberaler war. 

1974 bis 1994 war er Außenminister, was bedeutete das für die Deutschlandpolitik? 

Kühn: Damals war ich nicht mehr sein Mitarbeiter, sondern bereits Institutspräsident. Ich nutzte aber unseren Kontakt, um ihm immer wieder zu schreiben, wenn ich Ansatzpunkte dafür sah, etwas politisch in Richtung Wiedervereinigung zu unternehmen. Er rief dann an, ließ sich alles erklären und versprach, die Sache im Auge zu behalten. Doch unternommen hat er niemals etwas.

Warum nicht? 

Kühn: Wohl aus Angst, anzuecken. Es hätte ihm ja schaden können. Ich glaube, er hatte mehr Angst vor den „Freunden“ im Westen als vor den Sowjets. 

Was konnten die ihm denn tun? 

Kühn: Eigentlich nichts, aber er glaubte, ein gutes Verhältnis zu ihnen zu brauchen. Er wollte Ansehen, Erfolge, bloß keine Niederlage, und die hätten sie ihm bereiten können. Das letzte Mal schrieb ich ihm Ende August 1989 nach der ungarischen Grenzöffnung: Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir in Sachen Wiedervereinigung aktiv werden!? Wenige Tage später sprach er mich auf einer privaten Feier an und meinte: „Jetzt glaube ich auch, daß ich die Wiedervereinigung noch erlebe.“ Endlich! Ich riet ihm erneut, aktiv zu werden, auch im Interesse der FDP und notfalls an Kanzler Kohl vorbei. Grundsätzlich abgeneigt war er nicht, denn er mißtraute Kohl, und der mißtraute ihm – Spitzenpolitiker mißtrauen sich immer in der Angst, der andere könne sie ausstechen. Zwei Monate später kam es auch so, als Kohl sein „Zehn-Punkte-Programm“, das zum erstenmal die Aussicht auf die Einheit ansprach, im Bundestag vortrug, ohne das mit Genscher abzusprechen. Dabei spielte das Programm, von der politischen Entwicklung überholt, bald keine Rolle mehr. Aber Kohl hatte sich in der Öffentlichkeit an die Spitze der Bewegung gesetzt – worauf sein heutiger Ruhm als „Kanzler der Einheit“ gründet. Genscher und die FDP waren düpiert. 

Fazit: Genscher ging es bei der Wiedervereinigung nie um die Sache? 

Kühn: Nein, das wäre zuviel gesagt. Sicher wollte er, als es soweit war, ehrlichen Herzens die Wiedervereinigung. Aber er war davor eben nie bereit, etwas für sie zu unternehmen, geschweige denn zu riskieren. Das war nicht opportun, und wichtig war ihm vor allem, als Deutschlands „ewiger“ Außenminister in der ganzen Welt beliebt zu sein und den Eindruck der Omnipräsenz zu pflegen. 

Was halten Sie diesbezüglich von den Politikern heute?

Kühn: Dieser Hang, sich anzupassen um beliebt zu sein, mündet darin, daß unser Land heute vielleicht noch gefährdeter ist als zur Zeit seiner Teilung. Er hat dazu geführt, daß sogar in FDP und CDU ein ernst gemeintes Nationalbewußtsein als im Grunde „rechtsradikal“ betrachtet wird. Viele wollen nur noch Europäer sein. Die Folge ist logischerweise antideutsche Politik. Den Schaden hätte nicht nur Deutschland, sondern auch Europa; denn es wird nur als Europa der Vaterländer erfolgreich sein oder gar nicht. 






Detlef Kühn, war ab 1966 Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, zuständig für Verteidigungs-, Außen- und Deutschlandpolitik, bis er 1970 ins Bundesinnenministerium wechselte.1972 berief ihn die Bundesregierung Brandt/Scheel zum Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts, das der Jurist, geboren 1936 in Potsdam, bis zu dessen Auflösung 1991 leitete.

Foto: Bild links – Kühn (r.) um 1972 mit Bundesinnenminister Genscher und (oben) vor dem Brandenburger Tor: „Wütend wurde mir gesagt, nicht was, sondern daß ich über die Wiedervereinigung gesprochen hatte, sei das Problem“

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