© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Fragile Freundschaft
Rußland und China: Enge Verbündete sind Moskau und Peking keinesfalls / Ist die ungleiche anti-westliche Allianz von Dauer?
Albrecht Rothacher

Ein Joint Venture des russischen Weltraumkonzerns Roskosmos und der britischen IT-Firma OneWeb soll mit einem Satellitensystem dafür sorgen, daß jeder Bürger im größten Flächenland der Welt überall ins Internet kommt – selbst in den Weiten von Taiga und Tundra. Nach dem Treffens von Regierungschef Dmitri Medwedew mit seinem chinesischen Amtskollegen Li Keqiang vorige Woche in Sankt Petersburg könnte es auch ganz anders kommen: Aus Angst vor westlicher Spionage können nun chinesische IT-Konzerne zum Zug kommen.

Dabei sind die Beziehungen der beiden Großmächte der eurasiatischen Landmasse schon immer ambivalent. Nach dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn drängte das Zarenreich in die Mandschurei und errichtete im heutigen Dalian/Lüshunkou eine mächtige Seefestung.

Chinas Wirtschaft wächst und Rußlands schrumpft

Die zum chinesischen Einflußbereich zählende Äußere Mongolei wurde 1923 zwangssowjetisiert, und in Ost-Turkestan (heute Xinxiang) herrschten noch eine Weile weißrussische Offiziere. Sowjetische Militärhilfe und ihre japanischen Beutewaffen ermöglichten 1948 den Sieg der chinesischen Kommunisten im Bürgerkrieg. Doch schon 1964 brach KP-Chef Mao Tse-tung mit Moskau und denunzierte die Bevormundungen der Sowjetimperialisten. Im März 1969, als die Sowjetarmee noch weit überlegen war, kam es zu einem Grenzkrieg um die strategische Damanski-Insel vor dem ostsibirischem Chabarowsk sowie einige Inseln und Sümpfe entlang des Ussuri mit etwa tausend Gefallenen. Trotz der Proteste von sibirischen Kosaken trat Putin 2004 174 Quadratkilometer der umstrittenen Territorien an China ab, seine bislang einzige Gebietskonzession.

Mittlerweile haben sich die Machtgewichte weiter verschoben. Das Bruttoinlandsprodukt Chinas liegt mit umgerechnet 14,2 Billionen Dollar hinter den USA und der EU weltweit auf Rang drei. Das ist das Neunfache an Wirtschaftskraft im Vergleich zu Rußlands, das zwischen Südkorea und Spanien global auf Platz zwölf rangiert. Rußland bleibt ein – abgesehen von der Rüstungsproduktion – rückständiger Rohstofflieferant mit einer verfallenden Infrastruktur. China dagegen steigt unter der rücksichtslosen Industriepolitik der KP – staatlichen Billigkrediten, Exportdumping, dem Geheimdiensteinsatz und Technologieklau – vom billigen Massenproduzenten zum Hochtechnologieland auf.

Während China weiter um sechs Prozent jährlich wächst, wird die russische Wirtschaft bis 2030 wohl auf Weltrang 15 absteigen, seine Bevölkerung von 144 auf 139 Millionen schrumpfen und dabei stark altern. Zweifellos paßt es zu den Großmachtansprüchen des Kremls wenig, gegenüber den Chinesen, die ihren Überlegenheitsdünkel und ihre stärkere Verhandlungsmacht nur noch schlecht verstecken, ständig den Juniorpartner zu spielen. Doch seit Putin auf die antiwestliche Karte zur innenpolitischen Feindbildprojektion setzt, die ihm den Vorwand für eine aggressive Außenpolitik in Georgien, der Ukraine bis Syrien und Venezuela liefert, die Nutzung kleiner siegreicher Kriege ermöglicht und durch Repression im Innern seine Herrschaft festigen hilft, kann er sich seinen einzigen großen Freund nicht mehr aussuchen.

Schon seit jeher hat China begehrliche Augen auf den Rohstoffreichtum des sich entvölkernden Sibirien geworfen: Öl, Gas, Edelmetalle wie Mangan und Bauxit, Anthrazit, Diamanten, Gold, Kohle, Holz, Fische und Wasser. Die Vorkommen wurden an Orten wie Magadan und Kolyma von Millionen von Sklavenarbeitern von Stalins Gulag, von Zwangsdeportierten aus dem besetzten Europa und deutschen und japanischen Kriegsgefangenen während der Jahre von 1939 bis 1953 unter grauenhaften Opfern und Leiden erschlossen.

Tatsächlich werden bei jedem Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Xi Jinping und Wladimir Putin Absichtserklärungen unterzeichnet – doch wenig umgesetzt. In Endlosverhandlungen zerstreitet man sich über Preise, Kreditbedingungen und Projekte. Die chinesische Linie ist klar: Wer zahlt, schafft an. Sie finanzieren und wollen damit auch die volle Kontrolle vom Bau, über die Wartung bis zur Förderquelle. Das genau ist für Rußland nicht akzeptabel. Man hat nicht die Westfirmen wie BP, Shell und Exxon vertrieben, um alles nun den Chinesen zu überlassen. So laufen nach wie vor alle großen Gas- und Ölpipelines – Jamal, Druschba, Sojus und Bruderschaft – von Westsibirien nach Ost- und Mitteleuropa: früher, um das Sowjetreich zu versorgen, jetzt um durch Exporterlöse den Staatshaushalt und die Oligarchenkassen zu finanzieren. Immerhin ist China am Flüssiggasprojekt in Jamal beteiligt, wo der Tankertransport durch die Nordostpassage im Sommer nach Fernost möglich geworden ist.

Akute Begehrlichkeiten gelten den sibirischen Strömen, den Zuflüssen des Ob und des Balchaschsee in Kasachstan sowie dem Trinkwasser des Baikalsees, um der Versteppung Nordchinas mit seinem abnehmenden Grundwasserspiegel zu begegnen. Peking will dort weiter eine wasserintensive Landwirtschaft für den Reis-, Mais-, Soja- und Zuckerrübenanbau betreiben – in die Bewässerungssysteme soll sibirisches Wasser fließen. Am schlimmsten ist die Situation des Amur, wo chinesische Wasserentnahmen die Flußschiffahrt gefährden und Industrieabwässer inzwischen die Trinkwasserentnahme und den Fischfang verhindern.

Noch herrscht offizielle Eintracht

Ebenso hat China Millionen Hektar an Wald gepachtet, die es in den nächsten 50 Jahren abholzen wird. Ob wieder aufgeforstet wird, steht in den Sternen. 564 chinesische Sägewerke sind derzeit im Einsatz, denn das Fällen in China selbst ist stark eingeschränkt worden. Der Holzhunger bleibt jedoch gewaltig. Dazu gibt es im südlichen Sibirien Hunderttausende Hektar an unbestelltem Ackerland, die China gern für seine fleißigen Bauern pachten würde.

Derzeit leben in Russisch-Fernost, das mit 36 Prozent mehr als ein Drittel der Russischen Föderation ausmacht, noch 6,3 Millionen Menschen. Vor 20 Jahren waren es noch 8,1 Millionen. Die Region ist von Abwanderung und Überalterung bedroht. Auf der südlichen Seite des Amurs leben in der dichtbesiedelten Mandschurei, dem von den Japanern in der Vorkriegszeit schwerindustriell erschlossenen heutigen „Rostgürtel“ Chinas, 120 Millionen Menschen, die hungrig auf eine bessere Zukunft sind.

Die Dunkelziffer der nach ganz Rußland mehr oder minder legal eingewanderten Chinesen wird auf zwei Millionen geschätzt. Sie kontrollieren die Kasinos, Hotels in Fernost, arbeiten im Straßenbau, im Handel und in der Landwirtschaft. Tatsächlich versucht die russische Regierung den Arbeitskräftemangel in Fernost durch kasernierte nordkoreanische Sklavenarbeiter zu beheben. Ihre Löhne sind geringer. Das Kim-Regime kassiert sie ohnehin fast gänzlich.

Keinesfalls hält China den russischen Territorialbesitz für legitim. Erst 1639 hatten Kosakentrupps und Pelzjäger das Ochotskische Meer erreicht. 1858 und 1860 zwang das Zarenreich die kraftlos gewordenen Manchu-Kaiser, seine Gebietsansprüche auf die Amur-Ebene und später das Gebiet östlich des Ussuri bis Wladiwostok (Primorje) anzuerkennen. Es sind die verhaßten „ungleichen Verträge“, zu denen China in seiner damaligen Schwäche gezwungen war.

Noch herrscht offizielle Eintracht. In Gestalt der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) haben beide den US-Einfluß aus Zentralasien herausgedrängt und eine sicherheitspolitische Hegemonie errichtet. Doch machen sich die Chinesen mit dem Geld ihrer Seidenstraßen-Initiative (JF 13/19) nun im russischen Hinterhof breit. Autobahnen, Bahnlinien, Stromnetze, Pipelines, die nach China führen, Lagerhäuser und Terminals für China-Exporte, Flughäfen, Kraftwerke und Glasfaserkabel – alles unter Pekinger Kontrolle. Rußland hat dem mangels Masse nichts entgegenzusetzen: Die gesamte Region bis zum Kaspischen Meer gerät in den chinesischen Einflußbereich – von Restposten europäischer und türkischer Interessen abgesehen. Faktisch spielt Rußland dort noch den unbezahlten Wachmann für chinesische Wirtschaftsinteressen, ähnlich wie die Nato in Afghanistan.

Verbündet sind Moskau und Peking keinesfalls. China verhält sich gegenüber Rußlands Annexionspolitik in Georgien und der Ukraine neutral bis mißbilligend. Territoriale Integrität gilt wegen seiner Taiwan- und Tibetansprüche als Dogma. Nie würde China sich in fremde Streitigkeiten, die nicht eigenen Interessen entsprechen, hineinziehen lassen. Umgekehrt hilft Rußland dem Pekinger Erzfeind Vietnam bei der Ölförderung in von China beanspruchten Gewässern.

Nach Putin werden die Karten neu gemischt

Auch die Rüstungszusammenarbeit ist fragil. Rußlands wichtigste Exportkunden sind Indien und Vietnam. Doch verkauft Rußland seit 2014 auch wieder an China S-400-Luftabwehrraketen und SU-35-Kampfflieger. Die Exporte waren ein Jahrzehnt zuvor unterbrochen worden, als China SU-27-Kampfflieger als J II nachgebaut und als Billigvariante in die Dritte Welt exportiert hatte. Das russische Militär hat wenig Illusionen. Die relativ meisten russischen Truppen sind in vier Armeen im Wehrbezirk Ost entlang der 4.300 Kilometer langen Grenze stationiert. Dort sind auch die meisten atombestückten Iskander-Marschflugkörper stationiert. Sie waren die russische Antwort auf die chinesische Raketenaufrüstung, die ihrerseits hauptsächlich Taiwan bedroht. Insofern ist der Bruch des INF-Abkommens durch Rußland und seine Aufkündigung durch Trump eindeutig den Chinesen geschuldet. Eu-ropa trägt jetzt das Risiko, nicht die USA.

2018 fand unter dem Namen „Wostok“ mit 300.000 Soldaten, 36.000 Panzern, 1.000 Flugzeugen und 80 Kriegsschiffen eines der größten russischen Manöver der Nachkriegszeit an der mongolischen Grenze und an der Pazifikküste statt – größer als „Zapad“ im Westen mit 130.000 russischen und weißrussischen Kräften, die 2017 einen Krieg auf einen Gegner übten, der Polen und Litauen ähnelte. China nahm an „Wostok“ mit 3.200 Mann, 900 Panzern und 30 Fliegern teil. Rotland schlug erfolgreich eine Invasion aus Blauland zurück, wobei ein taktischer Atomschlag gegen die Invasoren simuliert wurde.

Wie lange Rußland seine faktische Juniorrolle akzeptieren wird, den absehbaren Verlust seiner Einflußsphäre in Zentralasien und die geopolitischen Risiken des Erhalts von Sibirien, der Hauptquelle seines Rohstoffreichtums, ist unklar. Nach Putin, der sich an kurzfristigen Machtinteressen und taktischen Vorteilen orientiert, werden die Karten neu gemischt. Schließlich bedroht der Westen Moskau weder mit einer Invasion noch Regimechange. Für China zählt ohnehin nur eine Großmacht: die USA. Rußland ist für das Reich der Mitte langfristig so entbehrlich wie seine seltsamen Freunde in Nordkorea, Birma oder Pakistan.

Foto: Chinesische und russische Marinesoldaten nach einem Schießwettbewerb in Ostchinas Provinz Shandong: Verräterische Gesichtsausdrücke