© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Die Wiedergeburt des Reichs der Mitte
Siebzig Jahre nach ihrer Gründung stellt die Volksrepublik China Amerikas globale Führungsrolle in Frage
Peter Kuntze

Sie ist wieder da – die Beschwörung der Gelben Gefahr. Vor fünfzig Jahren raunte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger: „Ich sage nur China, China, China ...“ Heute sind es in erster Linie US-Amerikaner – Republikaner wie Demokraten –, die das Gespenst von Tag zu Tag schreckenerregender auferstehen lassen. Sowohl Rechte wie Steve Bannon, Präsident Trumps ehemaliger Chefstratege, als auch Linksliberale wie George Soros, Investor und Gründer der Stiftung „Open Society“, verwandeln Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping in den Dr. Fu Manchu des 21. Jahrhunderts – in jenen Bösewicht, den der Romanautor Sax Rohmer 1913 erfand und den Hollywood bis in die sechziger Jahre immer wieder (vergebens) nach der Weltherrschaft greifen ließ.

Soros nannte im Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Xi den „größten Feind der freien Gesellschaft“, weil er mit modernster Technik seine Landsleute lückenlos überwachen wolle und Orwells schlimmste Visionen übertreffe. Bannon, Ende März in New York Gründungsmitglied des „Komitees für die gegenwärtige  Gefahr: China“ (CPDC), ruft dazu auf, das chinesische Volk von der Herrschaft der KP zu befreien, da deren Führer auch „auf globaler Ebene einen Gulag“ planten (Epoch Times, 7. Mai). Die seit Juni in Hongkong andauernden Proteste, die sich ursprünglich gegen ein umstrittenes, mittlerweile aber zurückgezogenes Auslieferungsgesetz richteten, sind Bannon zufolge das gegenwärtig „wichtigste Ereignis“ der Welt, weil sie den Beginn des Machtverlustes der Kommunisten markierten.

Gewalt in Hongkong würde den Aufstieg nicht mindern

Das Reich der Mitte hatte 1847 den Hafen Hongkong, von Beobachtern als „Warze an Chinas Bauch“ bespöttelt, für 150 Jahre an Großbritannien verpachten müssen. Termingerecht fiel die Kronkolonie 1997 an Peking zurück, das der seit langem prosperierenden Finanzmetropole gemäß dem von Deng Xiaoping entwickelten Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ für die nächsten fünfzig Jahre weitreichende Autonomie-Rechte einräumte (Presse-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit). In nunmehr 28 Jahren wird Hongkong endgültig der Volksrepublik eingegliedert. Die meisten Demonstranten fordern daher nicht die Unabhängigkeit, sondern die Einhaltung der verbrieften Rechte. Sollte Peking die Unruhen gewaltsam beenden, würde das weltweite Echo wie 1989 nach der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung auf dem Tiananmen-Platz zwar verheerend sein, am Wiederaufstieg Chinas aber nichts ändern.

Warum also die eingangs geschilderte Hysterie? Was ist geschehen? Als 1976, vor mehr als vier Jahrzehnten, mit dem Tod Mao Tse-tung das kulturrevolutionäre Wüten ein Ende fand und Deng Xiaoping zwei Jahre später die Reform- und Öffnungspolitik einleitete, gingen die meisten Beobachter davon aus, mit Einführung marktwirtschaftlicher Elemente werde die Volksrepublik auch politisch den Pfad der Demokratie beschreiten und dem Westen immer ähnlicher werden. Doch die Hoffnung trog. Im Juli 2010 prophezeite Pekings Vize-Außenministerin Fu Ying Redakteuren der Zeit: „Wenn Sie China immer an Ihren Maßstäben messen, und wenn Sie erwarten, China werde eines Tages wie der Westen sein, dann wird diese Hoffnung Sie immer wieder trügen. (...) Sie sollten jedenfalls nicht glauben, daß alle in China ohne Gehirn herumlaufen, 1,3 Milliarden Menschen!“

Während Rußland trotz riesiger Öl- und Gasvorkommen auch unter der Regentschaft Wladimir Putins nicht über den Status eines besseren „Obervolta mit Nuklearwaffen“ (so Helmut Schmidt über die Sowjetunion) hinausgekommen ist, hat sich Xi Jinpings China zum Konkurrenten der USA auf Augenhöhe entwickelt. Die weltweiten Erfolge digitaler Konzerne wie Alibaba, Tencent und Huawei, das geostrategische Ausgreifen des von Xi initiierten Projekts „Neue Seidenstraße“ über Asien und Afrika bis nach Europa sowie die Landung einer Sonde auf der erdabgewandten Seite des Mondes unterstreichen die vielfältigen Ambitionen der Volksrepublik.

Diebstahl geistigen Eigentums, erzwungener Technologietransfer, staatlich lancierte Firmenaufkäufe – die Liste der nicht nur von den USA gegen Chinas oftmals rüdes Vorgehen erhobenen Vorwürfe ist lang und in vielen Fällen sicher berechtigt. Neutrale Beobachter sollten sich dennoch nicht den Blick trüben lassen: Das Ausspähen anderer Staaten bis hin zur Industriespionage, um die heimische Wirtschaft zu schützen, sowie die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung sind auch den USA nicht fremd. Die National Security Agency (NSA) hat, wie Edward Snowden 2013 enthüllte, weder vor EU-Institutionen noch vor dem Handy der Bundeskanzlerin haltgemacht.

„Ein Viertel der Menschheit hat sich erhoben“

Wie weit die Überwachung innerhalb der USA gediehen ist, machte die New York Times im Juli 2013 deutlich: Der gesamte Briefverkehr werde registriert, wobei jeweils Absender und Empfänger von Computern erfaßt würden – allein 2012 sei dies bei 160 Milliarden Sendungen der Fall gewesen. Durch Snowden kam auch heraus, daß die NSA für ihre Datenbank täglich Millionen Gesichtsfotos im Internet sammelt. Stefan Kornelius, Ressortchef Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung, klagte daher, seit dem Anschlag vom 11. September  2001 nähre die Angst vor dem Terror mittlerweile „einen Überwachungsstaat, der alle Ideale verhöhnt, die Amerika in seinen Gründungsdokumenten und Hymnen besingt“ (JF 33/13).

In Wahrheit geht es bei dem Konflikt zwischen China und den USA um die globale Vorherrschaft. Während Donald Trump trotz persönlicher Sympathie für seinen Pekinger Widerpart mit dem Handelsstreit den Chinesen ökonomisch Paroli bieten will, arbeiten seine Gefolgsleute mit Diplomatie und Propaganda an einer neuen Eindämmungsstrategie, die indes in den siebziger Jahren schon einmal gescheitert ist. Xi Jinping hingegen sieht die Zeit gekommen, den über die Jahrhunderte angestammten Spitzenplatz des einstigen Reichs der Mitte wieder einzunehmen – offensichtlich in der Überzeugung, Amerika sei eine im Niedergang begriffene Macht, mit der die westliche Dominanz ihrem Ende entgegengehe.

Eine derartige Zeitenwende, die nicht zuletzt mit einer Renaissance des Konfuzianismus einhergeht, hätte sich vor siebzig Jahren niemand, auch kein Chinese, vorstellen können. Am 1. Oktober 1949 verkündete Mao vom Söller des Tiananmen, des Tors zum Himmlischen Frieden, die Gründung der Volksrepublik mit den Worten: „China, ein Viertel der Menschheit, hat sich erhoben.“ Nie wieder, so sein Versprechen, „wird unsere Nation gedemütigt werden!“ Für seine Landsleute ging ein Jahrhundert der Schmach und der Schande zu Ende, das 1840 mit dem Opiumkrieg begonnen hatte, sich 1911 mit dem Sturz des Kaiserreichs, der Proklamation der Republik (1912) sowie mit Jahrzehnten des Bürgerkriegs fortsetzte und erst 1945 mit der Kapitulation der japanischen Besatzungsmacht seinen Abschluß fand. Noch weitere vier Jahre sollte es dauern, ehe mit der Flucht der Kuomintang-Regierung Tschiang Kai-scheks auf die Insel Taiwan auch der Bruderzwist zwischen Kommunisten und Nationalisten entschieden war.

Das Land war damals am Ende; Krieg und Bürgerkrieg hatten es verheert. Felder waren verwüstet, Brücken und Dämme zerstört, die wenigen Industriebetriebe lagen in Schutt und Asche. Für die Revolutionäre schienen die Probleme unlösbar zu sein. Die Pekinger Auslandspostille China Pictorial, die gerade Monat für Monat jedes Jahrzehnt von der Gründung der Volksrepublik bis zur Gegenwart Revue passieren ließ, berichtete in ihrem Märzheft, 1949 habe Mao seine Mitstreiter gefragt: „Was sollen wir jetzt machen? Wir können Tische und Stühle zimmern, wir können Getreide anbauen, Weizen mahlen und Papier produzieren. Aber wir können kein einziges Auto, kein Flugzeug, keinen Panzer und keinen Traktor herstellen.“

Gleichwohl ging der Aufbau, nicht zuletzt dank temporärer Hilfe der Sowjetunion, bis 1957 einigermaßen zügig voran. Das fehlende Kapital wurde ersetzt durch den Fleiß und die Opferbereitschaft der Millionen Bauern, die im Westen oftmals als „blaue Ameisen“ verspottet wurden. Doch in der Folgezeit, so resümierten später sowohl Deng als auch Xi, häuften sich Maos Fehler. Die Ursache sei sein „linksextremistischer Leitgedanke des fortgesetzten Klassenkampfes“ gewesen. So hatte Mao 1958 die forcierte Gründung von Volkskommunen propagiert, um in einem „Großen Sprung nach vorn“ dem Kommunismus näher zu kommen. Das gigantische Experiment führte zu einer katastrophalen Hungersnot, die mehr als 36 Millionen Opfer forderte. Auch die Kulturrevolution, die Mao 1966 entfachte und 1976 mit seinem Tod endete, warf das Land um Jahre zurück.

Konflikt mit der etablierten Vormacht unvermeidlich

Erst seit Deng Xiaopings radikalem Kurswechsel 1978 mit der Einführung einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ befindet sich die Volksrepublik auf einem Wachstumspfad, so daß innerhalb von vier Jahrzehnten aus dem Armenhaus ein Land mit beginnendem Wohlstand geworden ist (JF 51/18). Von 1978 bis 2015 stieg das Bruttoinlandsprodukt um das 48fache. Dank Globalisierung und Digitalisierung ist China heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht; es verfügt mit drei Billionen Dollar über die weltweit meisten Devisenreserven und ist mit einer Billion Dollar Hauptgläubiger der USA. Spitzenpositionen belegt Peking mittlerweile auch in Forschung und Wissenschaft.

Jeden Tag, so Christoph Giesen, Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung, werden in China 15.000 private Firmen gegründet. Mit Milliardensummen unterstützt die Regierung die hart miteinander konkurrierenden Start-ups, damit sie mit dem Silicon Valley mithalten können. Um nicht, wie die Europäer, zum Spielball politischer und finanzieller Interessen amerikanischer Digitalkonzerne zu werden, hat Peking das Internet nach außen abgeschottet und auf das heimische Kreativpotential gesetzt. Im März 2015 wurde das industriepolitische Projekt „Made in China 2025“ verabschiedet, das im Ausland, besonders in den USA, auf großen Argwohn stößt. In zehn Schlüsselsektoren, so der Plan, soll China im Rahmen des „Internets der Dinge“ globaler Marktführer werden, unter anderem in Informationstechnik, Robotik, Elektromobilität, in Luft-und Raumfahrt, Medizintechnik und bei Neuen Werkstoffen.

Ob China und Amerika angesichts der geschilderten Konstellation der „Thukydides-Falle“ entgehen können? Am Beispiel des Krieges zwischen Sparta und dem aufstrebenden Athen hatte der griechische Historiker schon vor 2.400 Jahren konstatiert, eines Tages werde eine aufsteigende Macht unvermeidlich mit der etablierten Vormacht in Konflikt geraten. Nicht zuletzt eingedenk der früheren kolonialen Erniedrigung sind für Peking wie im Fall Hongkong so auch  im globalen Ringen nationale Souveränität und territoriale Integrität rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen.







Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (2014).