© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Lieber mit dem Unerwarteten rechnen
Die US-Politologin Angela Stent über Rußlands Entwicklung unter Putin und die Ratlosigkeit des Westens
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Das neue Buch der bekannten US-Rußlandexpertin Angela Stent vermittelt einen überaus tiefen Einblick in die Ex-Sowjetunion. Deren Ende bedeutete für viele Russen eine Demütigung ihres Imperiums mit seinen Traditionen bei gleichzeitigem Verlust der Weltherrschaft. Hatte der Westen gehofft, das Land in eine liberale Ordnung integrieren zu können, so wertete Putin dies als Versuch, Rußland zu dominieren und seine Identität auszulöschen.

Er repräsentiert heute die traditionelle, kollektivistische und autoritäre politische Kultur seines Landes. Ziel ist, es zur einstigen Größe zu führen. Zur Erhaltung der eigenen Macht wird seine Außenpolitik von innenpolitischen Rücksichten getrieben.

Die gravierenden Schwächen Rußlands sind sein geringes Bruttosozialprodukt, ein Bevölkerungsrückgang mit wachsenden ethnischen Konflikten; es ist weitgehend abhängig von eigenen Ressourcen und den Einnahmen aus Öl- und Gasexporten; es herrscht eine verfallende Infrastruktur – ohne tiefgreifende strukturelle Modernisierung wird das Land zurückfallen.

Nicht lösbarer Streit um Rußlands „nahes Ausland“

Außenpolitisch beansprucht Putin für Rußland „einen Platz am Tisch bei allen wichtigen internationalen Entscheidungen“, das auf Augenhöhe mit den USA stehen möchte. Zudem will Moskau Anrechte auf privilegierte Interessenvertretung im Raum der Ex-UdSSR, dieses „nahe Ausland“ sieht es als Teil eigener Verteidigungsstrategie; zugleich habe Rußland das Recht, diesen Staaten seinen Willen aufzuzwingen. Diesen Einfluß zu akzeptieren, ist der Westen nicht bereit; andererseits ist er nicht vorbereitet, sich in einem Maße dort zu engagieren, des Kremls vorherrschende Rolle ernsthaft in Frage zu stellen. Daß jene Länder der EU beitreten werden, ist daher unwahrscheinlich – insofern ein Sieg Putins.

Moskau konnte sein Verhältnis zu China verbessern, im Nahen Osten das US-Einflußmonopol aufbrechen und sogar den Nato-Partner Türkei enger an sich binden. Durch Verstärkung der Differenzen im westlichen Bündnis hofft Putin auf ein Scheitern eines geeinten Europas. 

Notwendig wären zwischen beiden Großmächten Gespräche über die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, ein New Start-Vertrag und die Cybersicherheit. Dazu müßte der Westen bekunden, wie fest er zu seinen eigenen Werten steht und wie groß tatsächlich sein Wille ist, sich gegen Putins Bedrohungen zu wehren; wichtig ist die Aufrechterhaltung einer starken, handlungsfähigen Allianz. Vor allem sollte man auf Überraschungen im Umgang mit Putin vorbereitet und beweglich genug sein, um darauf unmittelbar zu reagieren. Voller Mißtrauen mahnt die Autorin dabei, „in Putins Welt ist es ratsam, das Unerwartete zu erwarten“.

Angela Stent: Putins Rußland. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019, gebunden, 559 Seiten, 25 Euro