© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/19 / 27. September 2019

Knapp daneben
Experten gefährden die Demokratie
Karl Heinzen

Aus lauter Sorge um den Fortbestand unseres Gemeinwesens haben sich 102 Staatsrechtler, die qua Selbstverständnis ihrer Profession ansonsten eher geneigt sind, nur die eigene Meinung als einzig richtige anzusehen, zu einem gemeinsamen Appell zusammengefunden. Das Parlament ist viel zu groß, monieren sie in ihrem Schreiben an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Eigentlich sollten ihm bloß 598 Abgeordnete angehören. Wegen der Unsitte von Überhang- und Ausgleichsmandaten sind es aktuell jedoch 709. Nur durch eine „unverzügliche“ Reform des Wahlrechts kann verhindert werden, daß dieses Unheil nach dem nächsten turnusgemäßen Urnengang der Bürger in zwei Jahren noch ärger wird. Worin das Problem genau bestehen soll, ist nicht recht erkennbar. Das Alter der meisten Appellanten läßt darauf schließen, daß es sich vielleicht um einen Nachzügler der allgemeinen Politikverdrossenheit handelt, die in den 2000er Jahren um sich gegriffen hatte, durch die Etablierung der AfD allerdings überwunden werden konnte. 

Der Nationale Volkskongreß zählt 2.987 Abgeordnete und China gehört nicht zu den bedrohten Staaten.

Vielleicht fürchten die Professoren aber auch um die Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit eines so großen Parlaments. Dies ist jedoch völlig unbegründet. Der Nationale Volkskongreß der Volksrepublik China zählt sage und schreibe 2.987 Abgeordnete. Dennoch käme niemand auf die Idee, die größte Demokratie der Welt als einen vom Scheitern bedrohten Staat zu bezeichnen. Der gute Wille der 102 Staatsrechtshonoratioren soll gar nicht in Abrede gestellt werden. Gleichwohl bedienen sie sich wie all die zahllosen anderen selbsternannten „Experten“, die unsere Volksvertreter mit Denkschriften, Petitionen und offenen Briefen traktieren, eines undemokratischen Mittels aus vordemokratischer Zeit. Fürsten und bürgerliche Oligarchien durfte man auf solche Weise zu belehren versuchen. In einer Demokratie ist dies aber nicht angebracht. Sie läßt jeden Bürger selbst zum Experten werden, der durch die Wahl andere Experten beauftragt, ihre Expertise als Parlamentarier zur Geltung zu bringen. Wer diesen Willensbildungsprozeß durch Besserwisserei stört, untergräbt unsere Ordnung.