© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Gespannte Unsicherheit
Nordirland, der Brexit und die Grenzfrage: Angst vor der Rückkehr der konfessionell-nationalen Gewalt
Daniel Körtel

Die vielleicht kurioseste Blüte, die der anstehende Brexit treibt, findet sich in der nordirischen Kleinstadt Enniskillen, nicht weit entfernt von der Grenze zur Republik Irland. Dort an dem Platz, wo auch das Kriegsdenkmal steht, an dem die IRA 1987 mit elf Toten einen ihrer schwersten Anschläge im Bürgerkrieg verübte, bietet die Fleischerei O’Doherty’s mit dem „Brexit Burger“ eine besondere Delikatesse an. 

Die rohe Bulette wird an dem Schaufensteraushang des Geschäftes beworben als „ein Burger, der den Brexit so reflektiert wie er vom allgemeinen Volk gesehen wird“. Er sei „ein verrückter Burger, der aus genauso vielen Zutaten gemacht wird, so wie der Brexit ein verrückt zusammengemixter Prozeß ist“. Man wisse nicht, wie er schmecke, so wie man vom Brexit nicht das Endergebnis kenne: „Einmal gegessen könnte er nicht so schlimm schmecken oder möglicherweise schrecklich, so wie es beim Brexit nicht so schlimm oder möglicherweise schrecklich wird.“

Nordiren stimmten gegen den Brexit

Darauf angesprochen, erklärt die Verkäuferin hinter dem Tresen, daß dieses Produkt bei den Kunden gut ankomme. Niemand wisse, was nach dem 31. Oktober dieses Jahres, dem Datum, an dem der britische Premier Boris Johnson den Brexit durchziehen will, auf das Land zukomme. Vor allem treibe alle die Sorge um die mögliche Einführung einer harten Grenze mit Kontrollen und Schlagbäumen um, was vor allem die Geschäftsbeziehungen zum Süden einbrechen lassen werde. Allerdings sehe sie wiederum keinen Anlaß für Katastrophenszenarien.

Gespannte Unsicherheit und Ratlosigkeit begegnet dem Besucher, wenn er Nordiren nach ihren Erwartungen zum Brexit befragt. Beim Stichwort der harten Grenze ruft ein Museumsführer im grenznahen Armagh sarkastisch die Vergangenheit in Erinnerung: „Soll das so werden wie früher, als die Grenzbeamten von der IRA angegriffen wurden, so daß sie von der Polizei beschützt werden mußten und diese ihrerseits wiederum von der Armee?“

Doch noch ist es nicht soweit. Kein Schild weist darauf hin, wenn man auf der irischen Insel die bislang unsichtbare und reibungslose Grenze zwischen der Republik und der britischen Provinz überschreitet. Erst die sich ändernden Autokennzeichen beziehungsweise die vielfach mit britischen Wimpeln beflaggte Häuser der nordirischen Grenzorte signalisieren, wo man sich gerade befindet. Aber selbst die unterschiedlichen Währungen des Euros und des britischen Pfunds werden in vielen Geschäften wechselseitig akzeptiert.

Die unsichtbare Grenze im gemeinsamen EU-Raum mit Binnenmarkt, Zollunion und grenzüberschreitenden Institutionen ist ein wesentliches mentales Element der Friedensordnung zwischen den nordirischen Konfliktparteien, die sich seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 etabliert hat. Dem irischen Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke zufolge „war die Eliminierung der Grenzkontrollen entscheidend, welche wiederum es für nordirische Nationalisten leichter machte, eine Lösung zu akzeptieren, in welcher sie noch Einwohner (aber nicht notwendigerweise Bürger) des Vereinigten Königreichs waren.“ Und es ist der EU durchaus als Verdienst anzurechnen, daß sie seit 1973 den damals noch der EG beigetretenen Neumitgliedern Irland und Großbritannien einen Rahmen bot, in dem auf politischer Ebene ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht geknüpft werden konnte, auf dem der spätere Friedensprozeß in Nordirland aufbauen konnte. So ist es kaum verwunderlich, daß in Nordirland im EU-Referendum vom Juni 2016 eine deutliche Mehrheit von 55,8 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt hat.

Die Gefahr besteht nun, daß mit der Entstehung einer neuen Grenze die Rückkehr der konfessionell-nationalen Gewalt einhergeht. Allerdings erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß diese auf das Niveau früherer unseliger Zeiten steigt. 

Ein Indiz hierfür war im  August die diesjährige traditionelle Parade der protestantischen Apprentice Boys im nordirischen Grenzort Derry (Londonderry). Die durchaus beeindruckende Anzahl der geradezu bieder auftretenden Spielmannszüge lockte indes nur wenige Zuschauer an. 

Auch die auf der Rückseite mancher Hemden aufgedruckte, an Martin Luther angelehnte Parole „Here we stand – We can’t do other“ („Hier stehen wir, wir können nicht anders“) kann ebensowenig wie das kleine Grüppchen nationalistischer Gegendemonstranten darüber hinwegtäuschen, daß an diesem Tag das eigentliche Leben in den beliebten Einkaufszentren der Stadt stattfindet.

 Es ist heute kaum zu glauben, daß es vor genau fünfzig Jahren dieser Anlaß war, der den Ausbruch der „Troubles“, den fast 30jährigen Bürgerkrieg herbeiführte, als zwischen 15.000 Apprentice Boys und den Bewohnern der katholischen Siedlung Bogside die Gewalt explodierte.

Dennoch bereitet die wachsende Sympathie für die paramilitärischen Dissidentengruppen Sorge, die keine Schwierigkeiten haben, unter der sozial deprivierten Jugend Nachwuchs zu rekrutieren. Dem entgegen kämpft der reformierte Polizeidienst PSNI um das Vertrauen der katholischen Bevölkerungsgruppe, die sich gerade in den vielfach von Mauern getrennten Konfliktzonen zwischen den Konfessionen bei Problemen mit Kriminellen oft an die Paramilitärs wendet, die in Selbstjustiz zur Problemlösung nach wie vor brutale Praktiken wie Knieschüsse anwenden. Auch ist unter Katholiken die Überzeugung weit verbreitet, daß Premier Johnson entgegen seinen Versprechungen eine harte Grenze einführen wird.

Irland will Grenze offenhalten

In den Brexit-Verhandlungen ist die Grenzfrage nach wie vor ungeklärt und von entscheidender Bedeutung für den Abschluß eines Brexit-Abkommens. Als vorläufiger Entwurf gilt die Backstop-Regelung, wonach Großbritannien auch nach dem Austritt aus der EU über einen bestimmten Stichtag hinaus weiterhin Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion bliebe, falls bis dahin keine anderweitige Regelung getroffen werde. Somit wäre eine harte Grenze vorläufig überflüssig. 

Dieser Vorschlag wird jedoch von britischer Seite vehement abgelehnt, vor allem befeuert durch die nordirische Protestanten-Partei DUP, den Koalitionspartner der regierendenden Tories. Bislang gelang es London nicht, in dieser Frage die Phalanx der EU-Mitgliedsstaaten aufzubrechen, die fest hinter Irlands Forderung nach einer über den Brexit hinaus soften Grenze stehen. 

Unterdessen hat am vergangenen Sonntag die Vorsitzende der DUP, Arlene Foster, jedem Kompromiß, der Nordirland in irgendeiner Weise aus der Zollunion mit Großbritannien herauslöst, eine Absage erteilt. Sie sei zwar offen für einen zeitlich beschränkten Backstop, aber Irlands Ministerpräsident Leo Varadkar habe diese Möglichkeit schon ausgeschlagen. Die britische Seite, deren Alternativvorschläge für Ende dieser Woche erwartet werden, bekräftigte erneut, daß sie den Backstop als solches vom Tisch haben wolle.

Londons Brexit-Unterhändler Stephen Barclay beharrt weiterhin auf einer Verschiebung der Klärung der Grenzfrage bis zum Ende der Übergangsphase für einen geregelten Brexit. Doch noch ist offen, ob aus dieser Sackgasse heraus bis Ende Oktober überhaupt ein Abkommen ausgehandelt werden kann und so doch ein harter Brexit eintritt. In diesem Fall warnte Barclay, daß Großbritannien nicht alleine darunter leiden werde.